Von Ulla Unzeitig

Pudelfriseur

1.
Sie kommen mit einem roten Koffer und schließen ihn an eine kleine Maschine an. Am Bildschirm erscheint eine Flatline.
Ein Sanitäter legt die flache Hand auf seinen nackten Brustkorb. "Der ist doch schon kalt."

Die Notärztin will mir ein Beruhigungsmittel geben, doch ich lehne ab.
Die Menschen mit der roten Uniform gehen, die Polizei bleibt noch eine Weile, dann geht auch sie. Zurück bleibt ein einzelner Polizist, der verloren in der Küche steht und verlegen aus dem Fenster sieht.
Die Totenbeschauer kommen. Es sind zwei Männer und eine Frau.
"Mein herzliches Beileid", sagt die Frau und gibt mir die Hand.
Sie sieht überraschend jung aus, kaum älter als ich. Sie verschwinden in unserem Schlafzimmer und schließen die Tür hinter sich. Ihre Stimmen dringen dumpf nach draußen.
Später sitze ich bei der Einvernahme im Kommissariat in der Taubstummengasse.
"Wussten Sie davon?", fragt ein Beamter in Zivil und sieht mich mitfühlend an.
Das stimmt alles nicht, denke ich und schüttle meinen Kopf. Die Flatline biegt sich zu einem Fragezeichen.

2.
Es ist Ende Mai, seit Wochen ist es heiß Eine grellgraue Hitze, die mich im Schwitzkasten hält. Im Gastgarten vor der Uni sitzen die Leute aus unserer Vorlesung. Ihr Lachen fühlt sich schmerzhaft an, wie kaltes Eis an den Zähnen. Sie haben mich seitdem noch nicht gesehen. In diesem Augenblick wünsche ich mir, dass es ein Autounfall gewesen wäre. Das Gespräch verstummt. Sie wissen Bescheid.
"Setz dich zu mir", sagt Sophie und schiebt einen Sessel neben sich.

3.
Nach drei Wochen gibt ihn die Pathologie frei. Auch jetzt keine Antworten. Die Beerdigung ist schlicht. Ein heller Holzsarg, den seine Mutter ausgesucht hat, mit Sonnenblumen geschmückt. Menschen, die ich kaum kenne, umarmen mich.
Am Abend sehe ich vom Bett meines alten Kinderzimmers das ferne, vertraute Licht des Postturms. Er blinzelt mir zu. Im Wohnzimmer sehen meine Eltern fern, ich höre es durch die geschlossene Tür. Die Zeit dreht sich zurück, die Zukunft liegt offen und weich vor mir.
Der alte Kater kommt und schmiegt sich an mich. Ich drücke mein Ohr an den warmen Tierbauch. Schließlich stellt er sich auf meine Brust und dreht mir sein rosa Arschloch zu.

4.
"Wie lange willst du noch bei deinen Eltern wohnen?"
Sophie hat recht. Als im Herbst die Uni wieder anfängt, ziehe ich zu ihr.
Das Wetter ist nun besser. Es ist grau und regnet die ganze Zeit. Meine Gedanken sind ein trüber Strudel über einem verstopften Abfluss.
Sophie liegt auf der Couch und wischt auf ihrem Handy herum. "Stell dir vor, du kannst einmal die Woche darüber reden und den Rest hast du frei."
"Ach ja?" sage ich, denn etwas anderes fällt mir nicht ein.
"Ja, wie ein Termin, verstehst du? Die ganze Woche frei, nur bei dem Termin redest du darüber."
Mir gefällt die Idee. Mein Kopf bekommt einen Termin, an dem er kotzen darf.

5.
Bei der ersten Sitzung kommt die Therapeutin zu spät, was ihr sichtlich unangenehm ist. Sie hetzt die Stufen hinauf und lässt mich schon mal ins Therapiezimmer vorgehen.
Sie platziert mich in einem großen, blauen Sessel und eilt noch einmal hinaus, um etwas zu holen. In diesem Moment blubbert alles in mir hoch, mein Schleusentor öffnet sich und ein riesengroßer See ergießt sich über den Holzboden.

6.
Ich liebte immer das Morgengrauen. Jetzt fürchte ich mich davor, wenn der Morgen das Nachtdunkel in mein Zimmer drückt. Es kriecht in mich hinein, sodass ich mich kaum bewegen kann und nicht weiß, wie ich den Tag überstehen soll.
Er fehlt mir.

7.
Bei der Therapeutin spreche ich mit Kissen und Sesseln, meine Augen verfolgen ihre Hand, die sich rasch hin und her bewegt. EMDR nennt sie das.
Dann kommt die Wut. Ich bin stinksauer. Wenn er noch leben würde, ich würde ihn umbringen. Er hat uns beiden die Luft zum Atmen genommen. Er ist tot, ich muss in diesem halberstickten Zustand weiterleben. Jeden Donnerstag gehe ich die Stufen zu der Therapeutin hoch. Langsam verblassen die Bilder.
Auf der Uni mache ich ein zusätzliches Projekt, das ich für meinen Abschluss gar nicht brauche. Ich will noch nicht ins Leben hinaus.
Es vergeht noch ein Jahr und ein halbes. Ich wohne immer noch bei Sophie. Es ist wieder Mai. Es ist wieder heiß. Der Jahrestag geht vorüber. Die Therapie ist beendet. Ich möchte ficken, weiß aber nicht wen.

8.
"Heute reißen wir uns einen auf. Rot oder schwarz?" Sophie hält sich abwechselnd ein rotes Paillettenshirt und eine durchsichtige schwarze Bluse unter das Kinn.
"Ich hab die Regel. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich einen fremden Schwanz in mir haben möchte. Das Schwarze."
"Der ist nur am Anfang fremd, dann gewöhnt man sich an den Mann dazu. Findest du nicht, dass mich das blass macht?“ Sophie verschwindet im Bad und kommt mit einem grünen Täschchen wieder, aus dem sie ein abgepacktes rosa Schwämmchen nimmt. "Damit geh's. Und das nimm auch noch." Sie legt mir zwei Kondome hin und nach kurzem Zögern noch ein drittes. "Man weiß ja nie. Und wenn du laut stöhnst, sei so gut, und mach deine Zimmertür zu. Ich zieh lieber das Rote an."
Im Club pirsche ich mich an einen Dunkelhaarigen mit Lederjacke heran, der lässig an der Bar lehnt. Für den ersten Versuch muss das reichen. Er spricht Englisch, wir unterhalten uns eine Weile. Dann will ich nicht mehr und sage, dass ich seit vier Jahren einen festen Freund habe. Ich verschwinde aufs Klo. Sophie folgt mir.
"Wie jetzt", sagt Sophie durch die Tür. "Der war doch nett."
"Er ist Albaner", sage ich und fummle das Tampon-Band zur Seite.
"Ist doch egal. Gibt Schlimmeres."
"Aber ich muss doch mit ihm reden können.“
"Worüber denn? Wenn du was wissen willst, kannst du doch googeln."
Dann pinkle ich und das Rauschen übertönt das, was Sophie gerade sagt.

9.
"Der gestern sah total süß aus."
Ich schlage den Kopf von meinem Ei ab. "Nicht so meins."
"Klarer Fall von Chauvinismus." Sophie beißt in ihr Marmeladebrot und spricht mit vollem Mund weiter. "Zuerst sind es die Albaner, dann der Rest der Welt. Es muss eben doch Tinder sein, du hast es nicht anders gewollt." Sie fischt ihr Handy aus der Tasche und wischt darauf herum.
"Der?" Sie hält mir das Handy hin, ein Typ mit langem Bart grinst mir entgegen.
Ich verziehe das Gesicht.
Sie wischt ihn weg. "Bye, bye Mr. Dumbledore. Der?"
"Schon besser. Roderich. Ob das sein richtiger Name ist?"
"I hope not." Sophie wischt ihn weg. "Der?"
"Was hast du eigentlich für eine Altersspanne angegeben, das könnten alles unsere Opis sein."
"Das sind die Bärte. Denk dir einfach ein junges Gesicht dazu."
"Die Männer sollten auch ein glattrasiertes Foto raufstellen müssen. Stell dir vor, du verknallst dich in einen Typen und nach drei Kindern kommst du drauf, dass der ein blödes Gesicht hat."
"Das würdest du doch schon beim ersten Kind merken - und mit einem Kind nimmt dich noch jemand anders."
"Und wenn es Zwillinge sind?"
"Wenn es siamesische sind, dann gilt es vielleicht als eines."

10.
Die Bärte sind es nicht. Ich fürchte mich vor meiner Vergangenheit. Was soll ich erzählen? Und wann? Gleich am Anfang? Nach dem ersten Date? Nach der ersten Nacht? Ich kenne niemanden, dem es ähnlich ergangen ist. Die Therapie ist beendet, dort kann ich nicht mehr nachfragen. Soll ich eine alte Frau mit Gießkanne ansprechen?

11.
"Wenn du dich getrennt hättest, wärst du auch schon darüber hinweg." Sophie stellt den Einkauf auf den Küchentisch.
"Seelisch bin ich darüber hinweg, körperlich noch nicht." Ich streife die Sandalen ab und lasse mich auf die Couch fallen.
"Es gibt diese Trennung von Körper und Seele gar nicht. Das haben die Pfaffen erfunden, damit sie ihre Haushälterin vögeln können ... Schoko?"
"Macht überhaupt keinen Sinn, was du sagst."
Wir sitzen schweigend auf der Couch und kauen an der Schokolade. Ich muss daran denken, dass er mir dann von oben zuschauen könnte, wenn ich mit anderen rummache.
"Also keine Albaner und keine Bärte." Sophie zerknüllt das Silberpapier und rollt es zwischen den Fingern. "Kannst du dich an David erinnern?"
"Welcher David?"
"Der von Tamara."
"Aber das ist doch ihr Freund."
"Ja, aber der hat einen Stiefbruder."
In meinem Kopf ziehe ich eine Linie von Tamara zu David zum Stiefbruder. "Wie sieht der aus?"
"Er hat keinen Bart."
"Foto?"
"Warte." Sophie scrollt sich durch Instagram. "Schlechtes Foto, so ähnlich."
Ich sehe einen dünnen, blassen Mann. "Gefällt mir nicht."
"Aber mit dem könntest du reden. Der ist Polizist."
Sofort kommen die Bilder von damals wieder hoch. "Nein, danke. So verzweifelt bin ich noch nicht."
"Er könnte seine Uniform anlassen, wenn du ihn darum bittest."

12.
Ich fahre zu seinem Grab. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Der Friedhof liegt auf einer Anhöhe mit schönem Blick über Wien. Es gibt nichts zu tun. Ich schaue und weine ein bisschen. Dann gehe ich. Diesmal verlasse ich ihn.

13.
Über Bluetooth läuft Mokita und COIN. Wir lackieren uns die Nägel und probieren Oberteile aus dem Kasten der anderen. Wir wollen gleich los. Ein Studienkollege macht heute ein Sommerfest im Haus seiner Eltern.
"Scheiße, wir brauchen ja noch was zum Mitbringen."
"Wir nehmen was aus dem U-Bahn-Shop mit, unten beim Westbahnhof."
"Der hat aber nur bis 22.00 Uhr offen, oder?"
Wir rennen los. In meiner Handtasche rascheln die Kondome.
Es ist schon dunkel, als wir ankommen. Die Party ist in vollem Gange. Wir stellen den Wein auf einen Tisch.
"Komm, wir machen mal eine Runde."
Ich gehe Sophie hinterher. Langsam fühle ich mich als Single. Wir gehen an schönen Menschen vorbei, die auf Gartenmöbel und Barhocker drapiert sind.

Wir bleiben bei einer Gruppe stehen, die eine Flasche Tequila herumreicht.
"Ihr müsst jetzt raten, was er für einen Job hat." Ein Typ im blauen Poloshirt zeigt auf jemanden in Jeanshemd, der neben ihm steht. Er sieht ein paar Jahre älter aus.
"Pudelfriseur", sage ich.
Das Poloshirt sieht mich überrascht an, seine Augenlider kommen nicht so ganz in die Höhe.
"Kindersargzimmerer", sagt Sophie und langt in die Brusttasche vom Jeanshemd. Sie zieht eine Packung Zigaretten heraus und zündet sich eine an.
"Ja ok, ihr seid gut. Ich gebe euch einen Tipp." Das Poloshirt schwankt leicht und überlegt sichtlich angestrengt einen Tipp, der nicht zu viel verrät. "Also, ihr wart vielleicht schon mal mit ihm unterwegs."
Sophie sagt: "Taxifahrer, Straßenbahnfahrer, Kapitän."
Ich sage: "U-Bahn-Fahrer, Busfahrer, Astronaut, Kutscher."
"Ok, also ", der Typ wendet sich langsam zu seinem Freund, "lassen wir das gelten?"
"Ich mag Pudelfriseure", sage ich. Wir gehen weiter. Das ist der Vorteil. Mir kann nichts Schlimmeres mehr passieren. Und es ist mir scheißegal, was die Leute von mir denken.
"Dort drüben ist Tamara."
Tamara hat eine dunkle Sonnenbrille auf, die fast ihr gesamtes Gesicht verdeckt.
"Was ist los", sage ich, "hat dir David eine geknallt?"
"Ich war heute beim Friseur und hab mir die Augenbrauen färben lassen."
"Oh Scheiße", sagt Sophie. "Wo ist David?"
"An der Bar. Es gibt eine Erdbeerbowle, hab ich gemacht."
"Sind da k.o.-Tropfen drin?"
"Nein, nur flüssiges LSD."
David steht hinter der Bar und schneidet Orangenscheiben. Als er uns sieht, winkt er fröhlich. Ich sehe mich nach seinem Stiefbruder um, kann aber niemanden finden, der dem blassen Mann auf dem Foto ähnlich sieht.
Egal.

Später liegt Sophie mit einem blonden Lockenkopf zu einem Knoten verschlungen auf einer Gartenliege. Ich lasse sie liegen und schaue mich im Haus um. Es ist groß, fast wie ein Hotel. Oben gibt es viele Zimmer, in einigen liegen Leute herum, reden oder knutschen. Es ist schon spät, ich bin müde. Am Weg zum Klo schaue ich bei der Gartenliege vorbei. "Sag mal, wie lange willst du noch bleiben?"
"Bisschen noch. Zehn Minuten."
Tamara und David tanzen im Wohnzimmer, ich setze mich in einen Fauteuil.
Ich muss kurz eingenickt sein. Als ich aufwache, ist das Wohnzimmer leer, bis auf zwei, die drüben an der Bar stehen. Ich habe Hunger, ein paar Orangenscheiben wären gut. Ich gehe rüber, greife über die Bar, stoße dabei eine halbvolle Bierflasche um, die sich auf das T-Shirt neben mir ergießt. Verdammt.
"Ich war´s nicht", sage ich, als er sich zu mir umdreht.
"Das haben schon viele zu mir gesagt."
Er ist groß und hat grüne Augen - er kommt mir irgendwie bekannt vor. Plötzlich erkenne ich den Stiefbruder.
"Bist du vielleicht ein Pudelfriseur?" sage ich, denn irgendwas muss ich ja sagen.
Er lächelt und sieht dabei verdammt sympathisch aus.
"Nein", sagt er, "Ich bin ein begossener Pudel, und du?"

Übersicht

Gesund schreiben