Von Eva-Maria Dütsch

- - So lebte er hin.

15.000 Seen an meinem Fenster; (Oktober, dunkle mit Eiche getäfelte Wände, 1 Mann). Die Tropfen, weiche Pinienkerne gegen die Scheibe gestemmt, im Glas des Spätsommers, diese feine Nussernte an sein Klinikfenster gesetzt.

15.000 Heimatlose bzw. Waisen, denkt er, zögert. Das sind viele Organe. 1 Orgel. Seine Gedanken schleichen. Er hat sie unter den Pappelwind gehoben, wie unter eine andere Kopfhaut, lass sie da ausscheren; Schweiß & Spucke würden von einem anderen Mund über eine neue Geige sich ziehen, die ausgetretenen Pfade wären weniger tief, 1 klapperndes kleines Elend stieße nicht mehr nur aus diesem (nassen Herz.)

Ich habe eines, das sich vor Fensterfront auszieht und in zwei schwarzen, nackten Kammern auseinandertritt. Eine senfgelbe Hausfront gegenüber, dazu die nassgewaschenen Dächer und die Baumkrone (wenig Mut). 1 Fliege zu einem Regentropfen gereinigt, das ist er jetzt, dein Muskel; gewaschen (seht mich, 1 Licht) In Glasflügeln, 2 Fensterscheiben, beide mit zähem, weißem Blut, ÄTHER und LETHE eingeschlossen in einem Körper, wie in einen Inselkrater. Das Tier ist mit seinen Gedanken vor 1 Fenster.

Man hat mich wissen lassen, meine Situation habe sich verschlechtert. Ich empfinde meinen Leib als sinkenden Koloss. Das Wasser, in dem ich auf der Stelle trete, ist warm. Der Fluss, meiner, ein weicher Bär. Ich gebe zu, ich habe mich unterschätzt. (Diese Perspektive ist ein warmes Grab.) Für eine helle Haut, die das Licht scheut und abgibt, ist Schwimmen eine Wohltat. Ich spüre mit dem Gewicht eines Verwundeten, 1 Strömung des Sommers, 1. (Helen, ich habe die Gefahr unterschätzt. Damals. Mehrmals.) Das ist die Strömung.

Noch immer 15.000 Seen an meinem Fenster. Es ist Oktober, die Stadt ist nicht zu sehen, in dunkle Eiche getäfelte Wände & ich.) Ich sehe also nur meine Heimat an. Im Grunde 1 Altar. Ich höre mich, 1 brüllend Kind, in hüfthohen Grashalmen zischen: Heuschrecke, ich liebe dich. Diese tut dann den weitersten Sprung ihres Lebens. Natürlich. Diese Bewegung, meine Hand erinnert sich deutlich. Ein Absprung, der eingesunken ist. 1 Schlittelunfall im Hochsommerstrom, en passant, so zusagen. Auf meiner Haut, 1 Verlust. Und ich bin fast umgekommen. Ich habe es nicht erwartet. Mein Kopf war nicht miteinbezogen und ich wusste damals schon: Angst ist also offenbar eine Reihe Morsecode hinten in meinem Hals, eingestickt. Und hier schwellen die Punkte nun an, blaubeerengroß die Pulsschläge, die Nachricht aus mir.

(H-E-L-E-N. Eine Schädelfissur ist etwas sehr Schlimmes. In deinem Fall.)
Oktober, wie warmes Holz unter meinen Schenkeln. Von der Kindheit aus, aus 1 Hütte mit Fell & Puls, sieht man die Bestandteile eines Müllhaufens klar & schwer. 1 weiße Binde (deine Mama), 1 nasser Socke (der Vater), 1 Blutorange durchstochen mit Nelken, ihr herber Geruch, (das bin ich). Man rät mir hier täglich: Begeben Sie sich in die Kindheit zurück. Aber ich glaube nicht, dass ich mich dort zurückgelassen habe. Bzw. weiß ich, meine Wunde bezieht sich auf einen einzigen Tag. Nicht auf die Familie. Helen ist nicht meine Schwester. Helen ist nicht meine Mutter. Ich gestehe aber, ich hätte sie nicht besuchen sollen. (Helen ist natürlich auch nicht meine Frau.)
Helen ist meine Mutter, ist meine Schwester, ist meine Frau. Helen ist mein Zusammenbruch.

1 Traum aus Blut manchmal in meinem Mund. Bemerkt wird er nur an den Mundwinkeln meines Gesichts, krustig, und sofort austrocknend, ähnlich wie Wasser aus harter Erde drückt und wieder versiegt; so tritt er aus und zurück in meine Wangen. Ich habe dazu 1 Gefühl, 1 Gefühl wie 1 Kind, 1 gelähmtes, verkrüppeltes – Ich schiebe mich vor die Großfamilie, die bei frischem Fisch aus dem Teich und bei Rotwein sitzt, sie sehen das Gefühl wie warme Butter schlecht werden, (sehen keinen Nutzen in meiner Erzählung.) Und mein Mund öffnet sich morgens, das Laken ist voller Blut. Die Ärztin sieht mich unruhig an. Sie sagt, also gut. (Wer ist Helen?)

Ich bin ehrlich. Ich wünsche mir: 1 Klettergerüst, 1 stallwarme Hand zum Sitzen, der Oktober ist bald zu kalt, ich wünsche mir, über gleisloser Schotter glitte nicht nur der Gedanke an Gleise, sondern an Moos, (also 1 Langpoem), an Fell und nasser Mohn, an heiße Marillenmarmelade. Honig sollte sich in Schlieren wie Schlangen im Ofen, bzw. wie ein besseres Gedärm in mich legen, unten. Auf diesen Geleisen würde ich ansetzen, die Reise dorthin, dadurch, hinzu. Helen hätte mich hier vielleicht ermutigt. Sie hätte gesagt: Erzähl. Ihre Schultern, zwei kleine Gischtwellen, der Arzt sah sogar nach damals. Er roch nach Salz, als er hochkam.

Ich fühle mich natürlich gejagt. Die Jäger: Worte, Fragen, Ängste & neue Bewegungen, Begegnungen aus der Stadt, in die ich gezogen bin. Ich lege 1 Maulkorb um (die Hunde im Zwinger), so nenne ich die Erinnerungen, die Hunde im Zwinger. Ich nenne die Stellen 1 leere Stirn & 1 ölverschmierter Hafen, von hier aus starten die Jäger. Der Maulkorb hilft nicht. Wir werden gefunden. Meine Schwächen, meine Bilder, alle werden sie offengelegt, wie 1 einziger Nerv in dichtem, fettigem Fleisch. Damit kannst du nicht umgehen. Auch störte es mich damals schon, als Helen so genau hinsah. Noch während sie ausblutete, sah sie genau hin. Ich habe ihr helfen wollen. Hörst Du? Meine Ärztin streicht wild in ihren Blättern herum. Sie schätzt, sie könne sich meinen Zusammenbruch nur erklären, im Fall, dass ich Helen erfunden habe. (Habe ich das?)

Ich habe lange an dieser Erinnerung gearbeitet. Ich habe eine große Erwartung an sie. Es soll ein klarer Film werden. Wie Bergwasser soll er hervortreten, in Glitzervenen gespreizt, 5 davon, um genau zu sein. 1. H, 2. E, 3. L., 4. E, 5. N. Sie sollen bedächtig über grauen Schiefer verlaufen. Dahinter wie Tabakrauch und Äther, der Himmel. Direkt davor das Organ, das Gehirn, in diese Stränge gezweigt. Es soll heiß sein, wenn ihr mich ansieht, ihr werdet Heu sehen, es wird nach trockenem Gras riechen. Und ihr werdet eine blendend weißgestrichene Hüttenwand sehen. Und ein bewusstloses Kind. 1. H, 2. E, 3. L., 4. E, 5. N. Und zum Schluss werdet ihr nicht einfach meinen, ich habe ein Trauma, weil ich Soldat bin oder sonst was. Sondern ihr werdet, sehr zu eurem Erstaunen, eine Gesichte noch vor der Medizin, vor dem Militär mit anhören müssen. Das ist passiert. 1 Liebe.

*
Ursprünglich saß eine Frau mit einem Gesicht in braunen Locken auf dem Sofa, ich will sie, als wäre sie ein honiggelber Dattelkern in einem schwarzen Laib Brot, "verschieben" aus meiner Erinnerung. Aus meinem Zusammenschrumpfen entfernen. Weit wegbringen von meinem Waldgebiet, ihr nennt es (Wahnsinnstat, ich nenne es Unfall). Helen, ihre Tochter, wog nur 45 Kilo, sie hatte eine Schwäche für Salzteig und Pergamentpapier, sie sang Little Girl Bad, als ich ihr vorgestellt wurde. (Ja, wir waren sehr jung.) Hier kommt die Farbe vom Mönchspfeffer hinzu, das Bild verändert sich ein wenig, eine dünne Magellanstrasse bzw. die kleinen Körner mit Stiel 1 Linie nur, (dies, ihr Hals), er fällt an einen dunklen Ort, wenn man mich hier so nach ihr fragt, fällt er, und ich, ich falle ebenfalls. Das ist das Bild.

Ich war 14. Ein hohlmäuliger Hund schon damals. Hielt ihren Tod für 1 Feuer, ich bekam ein Angstgedächtnis, von dem Moment an, wie in einem schwarzen Kürbis mit matschigem Fleisch steckte ich & ihr Name wurde zu einem gleißenden Messerklinge, mit der man von innen her einen Ausbruch aus mir wagen konnte. Zum Glück heißt heute kaum jemand so.

Meine Fähigkeiten zur Unterhaltung bleiben hier wie eine alte Schneeschaufel in trübem Schnee stecken, I’m sorry. Und so sehr ich auch rüttele, oder Ihre Adern gerinnen beim Warten, ich bleibe wie ein Tigermund aus Holz, verbissen unter einer Kälte, die mich erst im Frühling, im Sommer, hinausschwemmt, genau genommen erst, als Helens Griff längst weggesunken ist, bleibe ich stecken. So. Denn seht ihr, Helen ist seit 31 Jahren schon tot. Und ich habe nicht mal mehr gewusst, dass das meine Schuld war, bzw. ich habe mir einfach gesagt: Ich bin nur durch Zufall Arzt geworden.

Und doch Helen und mein Beruf: Das greift ineinander, bzw. gehört zusammen, wie 2 Augenhöhlen, derselbe Puls jagt diesen Schädel und in welchen Blick wir auch immer münden: 2 Torsos. 2 Felder. Bewegen wir uns also mit ihnen? Helen ist tot. Da lässt sich nicht viel bewegen.

1 Bergkind wie ich, genießt Verluste. Es sind warme Jahresringe um mich herum, Tücher, die gleichmäßig auf und ab schweben & folgen; 1 abgelegter, kleiner Wind, Helen, Komma ihr tragischer Tod. Ich hätte mich nach ihrem Tod nicht angreifen lassen dürfen. Ich hatte Angst. Helen flüsterte noch, das hast du nicht gewollt, ich weiß. Du musst atmen, hat sie gesagt. Ich müsse etwas anderes bemerken, als nur meine eigene Angst. (ich bin dir nicht böse)

HELEN! Hinter ihrem Kopf sehe ich 1 Rinnsal (blutblutblutblut) helenblut.

Man gibt mir tatsächlich etwas zum Schlafen. Der Oktoberregen, seine Trommeln, ich bin froh ist er erneut gekommen. Ich versuche mich zu beruhigen. Klargeregnet dieses Bild von ihr in meinem Schädel festgezurrt. Süßlich weiß abgespalten von meiner Malvenstraße, meine Zunge dazu, daneben. Dieser Teil meiner wurmlöchrigen Seele (& 1 Bauch), bzw. 1 Loch, so leicht entzwei zu biegen, wie ein leicht zu zerschneidender Maschendraht, der Teil ist langsam und sorgfältig ausgeräumt, leergefegt innerhalb in einigen Wochen. Die Mittel wirken. Anfangs habe ich mich noch gewehrt, aber sie meinten, mein Geschrei, mein Schmerz sei für die anderen usw. An die Reise hierher in die Klinik kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Ich nehme vorsichtig an: Unter den Schwingungen eines vollkommen anderen Sturms habe ich mich an Helen erinnert gefühlt. Ist das so? (schuldig? unschuldig? Sind das die 1 beiden Urteile?)

die Hoffnung auf ein NEIN: ähnlich wie 1 abgesuchter, wunder Gaumen.

*
In die Wälder gestampft blutet und pocht aber auch 1 betäubtes Hirn. Wie 1 Lärche, bierflaschenfarben auf ein weidefarbenes Kinntuch gestickt, die Erinnerung an jenen Sommer 1982. Ich habe einmal freier daran gedacht. Ohne Wald umher. Das fällt mir öfters auf. Die Wälder in diesem Jahrhundert sind nur Brände, they used to be: kühle Lungen. Auch ich, mein Gemüt used to be: kühl. Aber jetzt wende ich mich unter einem heißen Wurzelgriff einer anderen Zeit zu. 14 Jahre alt, der Wermutbusch rührt sich, der Held steht auf.

Der Wald: er weint (er ist nicht sehr stark).
er hört mich: Jeden Morgen bin ich über die Rainerbrücke gerannt. Mütze, Pulli, Fäuste. Die Schuhe rau und durchgelaufen, der Teer, sein aufgerissener kleiner Rücken, ein Omen, hinter mir her. Atemwolke um Atemwolke mein Kopf geschmückt, ausgebüschelt, früh morgens, ich sehe mich, von weitem. Der Weg wurde nach der Brücke immer schmaler, meine Schritte kürzer. Von unserer Hütte bis zum Ende der Brücke waren es vierzig Minuten. Stell dir dazu der Fluss vor, Wein, vielleicht Ruß, 1 Wundrose austretend eigentlich. In alle Richtungen quoll er. Er trat regelmäßig über die Ufer, die großen Felsbrocken am Rande des Flussbeckens: kriegsbemalt. Schlamm, ab und an abgeknickte Schilfrohre, Plastikabfälle, Kondome. Ein Schöpfungshebel so braun wie die Stadttouristen. Ich rannte.

Nicht ganz alles fließt hier, sind wir ehrlich. Die Erzählung, sie möchte stocken. Ich war also erst 14. Sicherlich. Meine Ärztin aber fragt immer häufiger nach. Nach Details. Ich will aber nicht. Ihr Bild wird sehr ungenau.

Sommer 1982. Ferien.
Die kleineren Hütten am Waldrand, ich sehe sie vor mir, wie Murmeln in einem Kuss verteilt, jetzt wo hinten rot die Wolken voneinander reißen morgens, und sie wie Ascheklumpen unter ihren Dächern auffallen. In einem von ihnen wohnte Helen. Du bist dorthin gerannt. Ich. (Im Sommer 1982. Und heute Morgen, sind wir ehrlich.) Heute kann ich dieses Dorf nicht mehr betreten, beschreiben, aber auch nicht wegspülen. Eine Kopfverletzung riecht merkwürdig, haben sie darüber schon einmal nach gedacht vielleicht? Ich versuche mich zusammen zu halten. Aber das Dorf riecht dementsprechend vertraut. Wie eine große, offene, Hirnverletzung.

Du hast nur jemanden gekannt. Einen einzige Wölfin, 1 Zauberwald (angerührt, geschlossen.) Du hast sie Helen genannt. Du hast niemanden sonst je geliebt und es schien dir nicht einmal vorläufig. Kleine Kinder, die schrien in der Unterführung, daran erinnerst Du dich sogar heute noch. Regenwasser, das von den Dächern wich, der helle Blitz, wenn die Sonne einfuhr, sich ihr Grab weichkochte, das Haus von oben aufstach. Meine Erde gelockert mit Horizont. In Ziegeln ihr schwarzes Haus noch vor dem Morgen. (Im Innern ist immer irgendwo ein Mensch, sein Satz. Helen. Das war der Satz.) Die Frau im Eingangsbereich, Helens Mutter, sah mich an, musterte mein verschwitztes Bubengesicht. Ihre Stirn, eine Moräne, 1 gefrorene Bewegung Richtung Mund, Wort, Ton. "Ist Helen da?" (Liebst Du nicht diesen Satz auch schon? Ist. Helen. Da.) Das Gesicht hatte alles. Erde, Wangen, Wasser, Augen. Augen wie Steine in der Luft. Das war 1 Antwort. Meistens. (Und Feuer, Feuer: Helen. Ihr Mund. Jetzt wo der Nachbarsjunge gekommen ist.)
HELEN!
Das halbe Dorf erwacht.
(Als ich zusammenzucke, beginnt es. Hier.)

*
Die Bären stehen auf, 1 Epilog beginnt bzw. eine Elegie. (das kann ich sowieso nie auseinanderhalten) 1 Trauernde, 1 Trauerrede, beides auf meinem Mund. Als ich später wegzog, stellte ich mir vor, wie ich, um mein Erlebnis zu überleben, diese Erinnerung nutzen würde. Aber ich starb ein wenig. Erinnern heißt Blutvergießen. Wie eine angelogene Rose stehe ich inmitten dieser harten Wahrheit. Es stellt sich raus: Sterne sind Milben. (Helens Verletzungen waren am Ende desjenigen Tages derart schwer gewesen - MEINETWEGEN. ich möchte besser weinen, besser, mit aller Rosskraft, mich niederregnen)
bzw. diese Haut aufketten, sind wir ehrlich, mein Blick über dem Blut erhaschen, dann. bitte. Ich wünschte, ich wäre besser niedergerungen – hier, schau, nur eine Delle, mein Gesicht, es soll mithinabgerissen erst erzählen:

*
Helen war 12, als ich sie das erste Mal getroffen hatte, sie war eine langsame Sprecherin. Glich dem Sommer im September. Sie, ein Abend, eine Stimme: Da, warm, aber im Abschied, kurz davor sich aufzulösen. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich bewegte. Sie wusste, 1 Sturm ist dazwischengeschoben, zwischen sie und die anderen, er tänzelte hinter ihr, böen-bereit. Schwarz. Oktober heißt er. Ihr werdet frieren. Das wusste sie. Sie war schwerkrank.

(Ich liebe. Das eindeutig. Von hier. Vor ihrem Haus: Liebe.)
Was ist wichtig. Was kommt, kam, wenn man Helen rief. Ich hatte sie erst ein einziges Mal getroffen auf offener Straße, in der Hand einen Tomatenzweig und unter dem Arm ein Magazin. Was ist wichtig. Ihre knochigen Finger, Pulverschneeknochen, ihr fast schon hüftschwerer Gang, 1 vom Ursprung her aufgebrochene Stimme, 2 Doppelnarben als Arme.
(Ein schwerkrankes Mädchen, das auch, ja.) HELEN!

Sie half mir damals meine Einkäufe zusammenzutragen, da ich sie auf dem Gehsteig verteilt hatte. (Fahrrad, Papiersack, Regen. Dummheit.) Das war vor einem Jahr. Sie hatte gemeint, komm mich besuchen, wir wohnen in der Südgasse. Ich werde ihr Gesicht zurückbegleiten. Sie berühren. Das war mein erster Gedanke gewesen. Das und: Ein dünner kleiner Schlauch gefüllt mit warmem Rosenwasser & Kohlestückchen, das bist Du. Und unter den Traktoren die Ratten, ihre offene Schnauzen, ihr Gift. Diese Liebe. Dazwischen dann. (wir) Das habe ich gedacht.
HELEN!

An jenem Tag setzte mich auf die Treppe im Foyer. Ich suchte dieses Mädchen, als sei sie die Wunde. Ich roch sie zuerst, ich roch Eiter. Spürte, wie sich meine Haut geöffnet hatte. In meinem Bauch brannte eine Zwiebel wie ein scharfer Mond, er stach mich, ihr Haar sah ich von weitem, fühlte mich erbeutet. Die Nächte zwischen ihrer Einladung, im Oktober vor viertausend Jahren, an einem Sonntag, glaube ich, die Nächte, deren sanftes Dynamit, deren wachsender Kopf. Ein Schädel, der nur schrie: Sie. Eigentlich kein Kopf: Ein Mund, Größe Afrika. Ihre Wunde wurde ein Teich. Jeder Badeanzug voller Schweiß, gelb, verkrustet. Ich atmete dort. Ich sprach dort. Schwieg. Sah in die Höhle. In ihre Hölle. Das entsorgte Blond ihres Schädels, wie bereits weg, abgefallen. Eine Kruste. Die Stirn, eigentlich nur: Natur. Eine einzige Falte wie ein Fallbeil, direkt über der Nase. Ein Baum, der abknickt. Ein Küste. Abgesprungen.
Eine schwere Entgleisung, oben. Natur. Schicksal. Sie lächelt, als sie mich im Foyer sieht.

Helen. Helen. Helen. In deinem Namen blinkte ein Körper rot und gefroren nach außen. Sieh. Hier. Ihr Mund ist aufgerissen, entwickelt bis zum Äußersten, weiterentwickelt, evolutionstechnisch mehr Mund als unsere beiden Stockfische, die dich ansehen, dich in deinem Namen. Helen, deine Hand war eine harte Frage. Ein gezielter Schuss. Dein Mund aber prangte so reif. Vollkommene Stimme. Kein Fleisch. Nur Stimme. Frucht. Kern. Man hörte dich nicht mit den Ohren. Sondern mit der Fußsohlen. Im Bauch. Im Blut.

Das verliebte Blut hier, ja. Ich meine, also wirklich. Wer schob wen vom Bett? Ich habe Helen in mich aufgenommen. Das ging schnell. Über die Haut, wenn ich ehrlich bin. Ich war erst 14, was erwarten Sie von mir. Meine Ärztin blickt beschämt zu Boden. Schnell weiter. Helen führte mich einmal sogar in einen winzigen Raum. Ein Art Atelier. Über und über voll mit winzigen quadratischen ölfarbenen Bildern. Jedes einzelne: Blutrot. Klein.
Ein rotes Quadrat.
Ich schmiere, hier rutscht der Erzähler, ab.
Liebt dich.

Die Zimmer um mich wirkten weich. Ich sah einen roten Teppich, eine Wanduhr, eine Früchteschale. Helens Mutter holte mir ein Glas Wasser. Mein letzter Gedanke lag wie ein Schwert noch im Stein, mein Hals, die Ader eines großen Flusses, vollkommen entwurzelt, er spreizte sich; ich habe mich hier nicht angemeldet, ich kenne dich nicht, ich könnte abstürzten, untergehen. Untergehen in einer Kranken. Hinter ihr. Ungesehen.
Das hätte mir keine Angst gemacht.

*
15.000 Seen an meinem Fenster; (November, dunkle mit Eiche getäfelte Wände, 1 Mann). Ich. Von hier aus sehe ich Kamine, bauschige Schilfrohre, die sich unter den kleinsten Winden schon wegbewegen. Die hätten einer Erinnerung nie standgehalten, denke ich. Beim Frühstück höre ich eine der Schwestern etwas Murmeln, als ich mich setze. In diesem Fall fällt mein Blut wie 1 Frucht ab (100 kleine Kirschkörper, verschiedenschwer, sie verteilen sich fern ab von meinem Gesicht.) Dieser seltsame Verlust, denke ich, mein Gesicht ein kastanienbraunes Meer, leer und ledrig. Ich spüre seine zähe Welle wie ein Ersatzfell über meine halbgehäutete Wange ziehen. Es ist als würde Salzwasser einen Stein entkleiden.
(Bleibe ich zum Weinen eine Woche?)
3 Monate. Oh.
Eine schwere Mandel, die Luft um sich hat. Sie schwebt. Dünn und runzlig. (1 Mensch?)

*
Einmal habe ich Christus gesagt. Ein einziges Mal in meinem Leben nur. Und dann, knapp 31 Jahre später, ist mir dieser Moment wieder in den Sinn gekommen. Er kommt mir in den Sinn, ein steinernes Ei, das plötzlich aufbricht und sich entblößt. So seltsam wie das Gesicht, in dem ich (?) als erstes (?) und einziges je: lag. lebte. trank. sprach. weinte. (helen.) Soll ich es zurechtbiegen? Dieses Bild unterhalb der Hütte, in die wir gerast sind? Im Grunde erkenne ich: ungesundes Blut. Und die Hoffnung, dass es nicht (nur) meine Schuld war.

Es war meine Idee. Das weiß ich. Zu dieser Sommerzeit, war das Gras schon gemäht, die gesamten Wiesen also voller Heu. Disteln an den Wegrändern. Die Scheunen mit einem Fleckenverlauf von hell- und dunkelbraun, Zimt, oder 1 Wüste in ihren Wänden. (Wenn ich mich hier verwende als Erzähler, als Patient, dann bewege ich eine groß, schaukelnde Krise). Draußen unter der Brüllhitze: einen gewaltigen weissen Satz wird freigepflügt: Auf trockenem Heu kann man auf alten Brettern den Hang hinab schlittern bzw. schlitteln. Man passt zu zweit auf 1 Brett. Und ein Spaltbreit gehen vielleicht euer alle Rattenlippen auf: Ah. Das ist also passiert.

*
Weißgestrichene Häuserbalken, auf die Blaulicht trifft, verfärben sich schimmlig. Im Takt des Blaulichts leuchtet eine solche Hauswand also auf, als wäre sie eine trockene Fischhaut.
Halb sieben Uhr abends. Die Leute laufen zusammen. Schnell.

*
Es ist nicht mehr Sommer 1982. Du steigst aus der (Klinik), bzw. trittst in den Abend, seine Honigschlieren weit draußen, sie ziehen auseinander. Der Horizont: fast abgeworfen schon, deine Zunge: bröckelnd unter der Kaltluft. Ihr kommt aus der Eingang, Du und diese Schuld. Der Flur im Innern, 1 dunkler Handschuh; es glüht das Fenster wie ein Baron aus hellem Essig. Blutorangen heruntergeschlagen ins Dickicht. Das ist ein Sonnenuntergang. Du sprichst das angemessene Gebet; nämlich? Du brichst dir eine Rippe, bzw. holst sie hervor, bewegst sie. Aufgeschwommen, und wackelig, bleibt sie in deiner Hand, du sagst, das ist mein Gebet:
(nicht) ich, bin, schuld.
(doch) ich fühle mich schuldig. Blah.

1 genoppte Flamme, dein Gesicht, Starkregen vor dem Gebiet der Sprache, (ich wühle in einem Bienenschwarm, um dich zu ernähren, dir deine Angst zu nehmen. Die Dichterinnen die sich aufsetzen bei diesem Gedanken, die sich auseinander ziehen, schälen, sodass du die Mitte eines Menschen sein kannst, sodass eingelagert in 1 Hand, wie ein saurer Mond tief in einer weichen Nacht im Juli eingefügt, das liegt: dein Gewissen.)

du der Du abfederst, Du der Du die Feder Haar von Helens Mutter, als der Sanitäter zu ihr tritt, und ihr berichtet, Ihre Tochter, sie sei – du der abfällst, hinab gleitest in einen Strom tief im Sommer. Ist es das, was damals passiert ist? Ist das die Strömung?

Du wirst nicht mehr verführt. ("I took the year, all her years, and I killed them." Nein, eine sehr bestimmte Arztstimme: Nein.) In diesem Zimmer hier oben geschieht nichts hiervon. Dein Held ist nicht hier. Er hat sich nicht einmal darauf eingelassen, dich zu sein. Don Juan, wie ein kleiner Hund mit wundem Mund daneben. Er bellt: Du hast nicht mehr bremsen können. Du hast das Brett so sehr an dich gerissen, so sehr stoppen wollen, dass du beide Handgelenke gebrochen hast. Und am rechten Fuß fehlen dir zwei Zehen. Sie wurden unter deinen Fuß gezogen von der Geschwindigkeit, mit der ihr auf die Hauswand zugerast seid. Deine beiden Füße zersprangen. Wenn du zuerst auf der Mauer aufgetroffen wärst, ich meine, zum Schluss seid ihr seitlich aufgeprallt. Seitlich, ja. Aber wenn es dich zuerst getroffen hätte, nur dich. ich wäre dir dankbar gewesen, sagst du dir selbst, dankbar

Du warst ein Kind. Ein Kinder voller Angst.
Ich stelle mir dich vor und ich will wissen, ist das die grüne Seite des Baumes. Bin ich in der Wurzel. Wo wurde diese Pflanze verbrannt und warum, warum, stelle ich mir die Brust eines Armeearztes so vor, dass ich, wenn ich die Schreibmaschine mit dem Löschen der Kerzen im Dunkeln ertränke, meine Hand noch immer nicht aus einem dicken Knoten voller Brusthaare und schweißgetränktem Salzknäuel herauswinden kann. Warmes Warum. Warmes Achtung.

Das nimmst du wahr. Was (nicht.)
Nimmst Du wahr, dass deine Berufswahl, sowohl die Medizin, als auch das Militär, vielleicht 1 Versuch war dich zu befreien von -
Das Gesicht der Ärztin hält dem Blick stand. Außerordentlich lang bewege ich mich nicht.
Die Medizin und das Militär, rissige Hautklumpen die vor dir liegen und scheinbar ein Ehemaligengespräch führen. Hier bist du nicht Mann, Dr., oder Soldat. Hier bist du schuldig. leise, 1 harter Kern bzw. mit gewissem Subtext. Fühlst Du dich von einem 31 Jahre altem Rückenschuss befreit?

*
Morgen holen sie dich ab für deinen ersten Spaziergang seit du hier bist und du bist nicht bereit. Die Hütte fühlt sich düster und böse an, als würdest Du wie ein Reiskorn über einem dunkeln Abfluss wandern, in konzentrischen Kreisen durch einen dreckigen Sog, und in jedem Zimmer, aus dem du gespült wirst, liegt hinter dir nasse Vulkanerde (bzw. diese Erinnerung bzw. helen mit dem gebrochenen Rücken) und du rufst zurück, wie als wäre einmal deine Stimme ausgespien worden; in Lava ihr beschissenes Herz. Lava in ihren fast-starren Pupillen, die du ihr wärmst, jetzt wo ihr einander wieder anseht und ich euch höre.

Es ist ein heller Dezembertag, als du deine ersten Schritte machst. Bzw. als die Schwester es schafft, dich weiter als der Eingangsbereich zu bewegen. 1 einziger labiler Berg, denkst du. Und noch bevor dein Schädelknochen diesen Gedanken, diesen Ausdruck für sich speichern kann – – –

Wie ein Meer breitest du dich auf dem Boden aus, atmest auf. Endlich. Es ist als spränge nur ein Katzenschädel entzwei. Sofort sind andere zur Hilfe. Aber das geht nicht. Wenn du liegen bleibst, ist gut. Hingebreitet zu sein, das ist eine gute Antwort. Legen Sie dieses Bild neben meine Erinnerung. So sehen sie uns, wie zwei Eisschollen auf dem Hudson River oder in einem Bergbach (dafür würden wir uns natürlich noch verkleinern, zerstückelnd, ich denke an junge Vögel, die einen Flügel hier im Wasser und 1 am Boden treiben lassen, und den Schnabel hier: Am unteren Ende einer Seite Text. Die Feder mit nichts gefüllt als ganz warmem, fast kochendem Kinderblut über der Hand eines Vierzehnjährigen.) Helen, seit 1982 tupfend Du also hier. Und jetzt noch einmal wer, ich. Ich würde gerne in diese Plumeria-Blüten aufgeteilt ein Ende machen. Ein Spritzer, ein Punkt, & dazu 1 Ähre, ein Komma, sie ist zerkleinert und eingesetzt, mit all den anderen, 1 Komma, nichts weiter, helen komm, schau. (wir)

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