Von Kirsten Fuchs

Sneaker

Die Sonnenspiegel drehen und werfen das gelbe Licht in den Hof. Obwohl es echte Sonne ist, sieht es wie ein drübergelegter gelber Effekt aus.

Ich habe den ganzen Vormittag gesehen, wie der immer stärker werdende Wind die Bäume in den Baumgattern bewegt, ohne den Wind zu hören oder zu fühlen. Das wird irgendwann komisch. Vielleicht auch, weil es keine andere Bewegung im Hof zu sehen gibt. Alles wirkt wie eine Projektion auf einer flatternden Leinwand. Neben einem Baumgatter steht eine Schaukel. Ich habe da noch nie ein Kind schaukeln sehen, aber die Schaukel schaukelt immer. Es gibt hier kein Kind. Nur Wind.

Das wirkt jetzt als ob ich ständig aus dem Fenster sehe. Mache ich eigentlich nie. Ich habe sonst die Rollläden unten und eine Projektion laufen. Urwald oder Meer. Auf jeden Fall Landschaft. So wie es in den Empfehlung für Langzeitquarantäne steht. Weil das gut tut. Ich weiß nicht, ob es mir wirklich guttut. Ich merk nichts. Die Projektionen der Landschaften sind ja auch nur Projektionen von Landschaften und keine Landschaft. Ich weiß, dass hinter den Rollläden keine Landschaft ist. Da ist eine sturmsichere Neusiedlung. Mit Bäumen in Sturmgattern.

Ich darf das Fenster nicht öffnen, aber ich setze die Maske auf und schließe sie an die Filteranlage an. Das direkte Anschließen der Maske ist nur für Notfälle, aber ich will das Fenster öffnen, so sehr, als wärs ein Notfall. Auf der Wetteranzeige am Fenster sehe ich, dass nur noch zwei Striche auf der Skala fehlen bis die Sturmverriegelung ausgelöst wird.

Mein Vogeltinnitus nervt außerdem und wenn ich Glück habe, höre ich einen echten Vogel und der Vogeltinnitus lässt dann nach. Das habe ich schon einmal erlebt, als ob der Vogeltinnitus eigentlich nur nach einem echten Vogel ruft, aber in meinem Kopf, wo gar kein echter Vogel ist. Mein Vogeltinnitus ist eine Amsel. Ich habe das der Datenbank vorgepfiffen. Amseln waren früher häufig. Akut vom Aussterben bedroht, sagte die Datenbank. Es ist ein schwarzer, kleiner Vogel. Nicht besonders aufregend. Ich habe noch nie eine Amsel gesehen oder gehört, außer die in meinem Kopf, die dort sinnlos herumsingt, als würde sie sich paaren wollen, aber in meinem Kopf keine zweite Amsel findet. Ich weiß nicht, woher mein Gehirn überhaupt weiß, wie eine Amsel klingt. Young aus meiner Klasse hat einen Kuckucktinnitus. Das erklärt den immerzu überraschten Gesichtsausdruck von Young. Soll man sich nicht drüber lustig machen, wollte ich auch nicht, Entschuldigung, denke ich.

Und ich soll auch nicht das Fenster öffnen. Entschuldigung, denke ich wieder und öffne trotzdem das Fenster. Miep macht die Maschine und bläst sich auf. Luftaustausch. Der Wind macht eine Windempfindung auf meinem Gesicht, wo die Atemmaske nicht sitzt. Wo die Atemmaske sitzt, ist nur Atemmaskenempfindung. Der Wind ist kalt. Das Wetter pfeift und klappert.

Etwas klatscht in mein Gesicht. Eine Gesichtklatschempfindung. Etwas, was es in meinem Leben noch nicht gab. Durch die Erschütterungsapp im Omniport ist es unmöglich- jemanden zu schlagen, ohne dass es im Protokoll auftaucht. Wenn du noch sicherer sein willst, kannst du in der App anklicken, dass automatisch eine Videoaufzeichnung der vorhergehenden zehn Sekunden angefordert wird. Die meisten Menschen haben das eingeschaltet. Bei Kindern ist es sogar Pflicht. Wenn du sechszehn bist, kannst du die App ausschalten und das haben alle im Klassenzug sofort getan. Wir haben angefangen, uns zu prügeln, um Schlagempfindungen zu haben. Natürlich von Schlagvideos beeinflusst. Die inzwischen verboten sind, aber wir haben die vorher runtergeladen und nehmen immerzu neue auf, die wir in Unterkategorien teilen.

Diese Schlagempfindung ist anders.
Ich bin erschrocken, so wie ich das einschätze. Ich habe meine Warnbrille nicht auf. Mir ist noch nie was ins Gesicht geflogen wie das eben. Ich bin auf eine unglaubliche Art wach. Das, was in mein Gesicht geflogen ist, fühlt sich an wie ein T-Shirt, in dem ein weiteres T-Shirt gewickelt ist und vielleicht noch etwas hohles und etwas wie eine kleine halbvolle Trinkflasche. Es gluckst.

Alles zusammen klatscht auf das Fensterbrett. Ich habe mit mir zu tun, denn die Empfindung in meinem Gesicht ist stark. Bestimmt ist Adrenalin ausgeschüttet worden. Davon habe ich in der Schule gehört. Ich fühle auch Schmerz. Obwohl ich jeden Morgen Schmerzblocker nehme. Wie alle in meiner Klasse. Wegen Nacken. Und vor allem wegen psychischer Sachen. Heute habe ich sie noch nicht genommen.

Das was mir ins Gesicht geklatscht ist, liegt auf dem Fensterbrett und bewegt sich nicht. Ich erkenne einen Vogel natürlich sofort, wenn ich einen sehe, denn in allen Kinderapps sind Tiere zu sehen. Ich bin mit Tieren in Apps aufgewachsen. Eine glückliche Kindheit. Wir hatten ein Streampferd, eine Streamkatze und zwei Streamhunde, wovon einer oft hing und glitschte. Ich hatte immer Angst, dass er starb, aber mein Elternteil sagte, dass wir ihn neu programmieren könnten. Das wollte ich aber nicht, weil er einzigartig war. Er hieß Bass. Dann wurde der Streamingdienst teurer und wir haben alle Abos auslaufen lassen.

Vor mir liegt ein Vogel. Ich hole ihn rein.
"Sneak!", ruft mein Elternteil.
Ich rufe zurück. Irgendwas. "Ja? Was denn?" Sowas. Ich werfe den Vogel auf den Boden. Er flattert mit den Flügeln und dann sitzt er oder steht. Die Beine sind nicht eingeknickt.
"Das Protokoll sagt, dass dein Fenster geöffnet ist."
"Ja, das stimmt."
"Ist alles stabil?"
"Stabil, ja."
"Kann ich dich sehen?"

Ich werfe meine Anpassjacke über den Vogel. Es gibt wieder dieses Geräusch, als wäre in dem Vogel eine kleine, halbvolle Flasche, außerdem eine Hupe ohne Luft. Ist das normal? Der Vogel hat gar keine Schmerzblocker.
"Ja, kannst du mich sehen?"
"Haha. Mach doch mal den Elternfilter aus bitte."
"Zimmer sieht aber aus. Weißt du, oder?"
"Weiß ich. Kannst ja den Bodenfilter anlassen."
Ich nehme die Jacke von dem Vogel runter. Er schaut mich mit einem Auge an und hüpft ein Stück weg, dann im Kreis. Dann putzt er sich den einen Flügel. Ich schließe das Fenster, schalte den Elternfilter aus, lasse den Bodenfilter an und stelle mich in den Raum, fummel die Maske ab.

Das Gesicht meines Elternteils erscheint im optischen Zugang in der Tür.
"Hi Sneaky!"
"Sneaker, Sneaks, Sneako meinetwegen, aber nicht Sneaky."
"Ja. Vergessen. Sorry. Kosename wegen Liebe weißt du?" Elternteil grinst. "Ah, du hast das Fenster wieder zugemacht. Gut. Warum hast du denn überhaupt ..."
Ich will nicht so voreilig lügen, weil ich sonst auch echt lahm antworte, aber jetzt hab ich es nicht unter Kontrolle. Bestimmt wegen der Adrenalinausschüttung. "Wegen Wind. Wegen dem Wind. Wegen des Windes. Weil das so absurd aussah, wenn sich alles draußen bewegt und man es nicht spürt."
"Ja, Dissonanzwahrnehmung." Elternteil nickt, aber verzögert durch Übertragungsfehler.

Ich höre hinter mir den Vogel herumlaufen. Die Krallen, heiß das Krallen?, klappern, ja klappern heißt das, klackern.
"Dein Teppich bewegt sich", sagt Elternteil. "Filter flippt."
"Ja, Filter flippt." Kann sein, dass ich eine verstärkte Durchblutung im Gesicht habe. Kann auch sein, dass es von außen sichtbar ist. "Dein Filter flippt auch. Du siehst ganz jung aus."
Elternteil verdreht die Augen. "OK, Sneaks, ich muss jetzt arbeiten. Türkis ist bis heut Abend beim Bestäuben. Essen ist in der Klappe. Bitte nicht kalt essen. Ja?"
Ich nicke.
"Ah ...", Elternteil zeigt mit dem Zeigefinger auf mich. "Im Portiernierer sind noch deine Schmerzblocker. Nimm die bitte noch. Drei. Hörst du? DREI! Sind schon ganz andere in der Quarantäne geflippt."
Ich nicke nicht, brummel irgendwas.

"Dein Bodenfilter macht mich irre." Elternteil küsst Kuss mit dem Mund, den ich nicht fühle. Ich freue mich trotzdem. Optischer Zugang erlischt. Der Vogel macht ein Geräusch als ob er sich erschrickt. Ich erschrecke auch. Wir erschrecken zusammen und schauen uns an. Was wollen wir voneinander? Nichts. Wir sind aufeinandergeprallt und nun zusammen, als wäre durch den Aufprall ein Teil vom anderen in den anderen gelangt. Als hätten zwei Gewässer angestoßen und wären oben ineinander geschwappt.

Ich schüttel mich, aber es kommt mir fremd vor, wie ich das tue. Als wollte ich mein Gefieder ordnen. Mein Vogelanteil.
Ich schalte die Schallisolierung an, damit ich mit dem Vogel reden kann.
"Hallo!", sage ich. Der Vogel sieht mich an. Er hat ganz schwarze Augen. Sie sind rund. Um das Auge ist ein Ring aus einer Haut mit ganz kleinen Noppen, Poren vielleicht. Wimpern hat der Vogel nicht. Er ist grau mit ein bisschen schwarz. Eine Amsel ist es jedenfalls nicht. Was tun wir jetzt? Ich kann das allein entscheiden. Muss sogar. Ich kann das Sprachprogramm vom Zimmersystem fragen.
Es heißt Tani.
"Tani."
"Ja", antwortet Tani sofort.
"Ich habe einen Vogel im Zimmer. Was könnte ich jetzt tun?"

"Spezifiziere Vogel", sagt Tani knapp. Obwohl es weder die Programmierer noch das Programm selbst Kraft spart, spricht Tani so, als hätte es nur begrenzt Zeit und wirklich noch jede Menge anderes zu tun, als mit mir zu reden, als hätte Tani noch ein tolles Hobby im Hintergrund zu laufen: Menschenzüchten oder Weltherrschaft. Oder überlegen, ab wann alles schiefgelaufen ist und versuchen eine Zeitmaschine zu erfinden, die uns alle an diesen Punkt zurück bringt, damit wir Menschen dann wieder genau dasselbe tun.
"Ich spezifiziere", sage ich und muss lachen. "Keine Amsel."
"Ist keine Amsel zum Verzehr?"
"Nein, ich brauche keine Kochrezepte." Ich muss schon wieder lachen. Das Programm wird aufmerksam, weil ich sonst nie lache, wenn ich allein im Raum bin. Es könnte ein schlechtes Zeichen sein. "Bitte Quarantänekontrolle ausführen", sagt Tani auch sofort. Das Gespräch ist gelaufen. Wenn Tani einmal einen Entschluss gefasst hat, dann brauche ich nicht mehr mit etwas anderem kommen. "Was ist drei plus eins?"

"Bitte Quarantänekontrolle ausführen, um psychische Stabilität zu überprüfen", wiederholt Tani.
"Du weißt nicht, was drei plus eins ist?"
"Bitte Quarantänekontrolle ausführen, um psychische Stabilität zu überprüfen", wiederholt Tani.

Ich starte das Kontrollprogram.
"Quarantänekontrolle, Tag 62", sagt die Quarantänekontrolle. "Bitte stellen Sie sich vor den Gesichtsscanner und beantworten Sie die folgenden Fragen. Wie haben Sie geschlafen?"
"2", sage ich und schaue munter in den Gesichtsscanner.
"Wie ist ihre Stimmung?"
"4."
"Wie gesund ernähren Sie sich?"
"2"
"Haben Sie ausreichend Wasser getrunken?"
"3"
"Haben Sie sich genug bewegt?"
"4"
"Haben Sie etwas für Ihr Wohlbefinden getan?"
"4"
"Haben Sie soziale Kontakte gepflegt?"
"3"

"Bitte starten Sie zur Verbesserung des Zustandes ein eingetragenes Bewegungsprogramm. Bitte starten Sie zur Verbesserung des Zustandes ein eingetragenes Entspannungsprogramm. Bitte starten Sie zur Verbesserung des Zustandes ein eingetragenes Kontaktprogramm. Alternativ können auch zahlungspflichtige Programme vom IHD, der RFK oder der Privaten genutzt werden. Die genutzten Programme melden Sie bitte über das Portal an." Das Programm schweigt, als ob es nachdenkt. "Stimmanalyse", helfe ich aus. "Jetzt ist die Stimmanalyse dran."
Genau. Da fällt es dem Programm wieder ein.
"Bitte sprechen Sie mindestens 3 Minuten einen Text Ihrer Wahl. Sie können unter dem Punkt Stimmanalyse unter verschiedenen Texten auswählen oder Sie sprechen frei."

"Hallo! Mein Name ist Sneaker. Ich bin sechzehn Jahre alt und befinde mich seit zweiundsechzig Tagen in Quarantäne. Die meiste Zeit kaufe und verkaufe ich Sneaker, was ich auch sonst in meiner Freizeit tue. Ich suche vor allem alte Franklyn aus limitierten Reihen, zum Beispiel aus der Changer-Linie, der Goon-Linie und der Winnas-Linie. Ich kaufe aber auch Torschs und italienische Manufakta. Bei den Manufakta habe ich mich auf die Basketballlinie aus den Jahren 2045 und 2046 spezialisiert. Ich kaufe keine Nike, Adidas, Puma, Gamers und Thaddeuzzzz. Solange diese Firmen nicht in ihren Ländern produzieren, klima- und genderneutral, unterstütze ich das Tragen dieser Schuhe nicht. Niemand soll für diese Schlauch-Vereine Werbung laufen. Mir wäre es am liebsten, wenn diese Marken nirgends zu sehen sind und dafür bin ich bereit auf Gewinn zu verzichten. Ehre!"

Ich klopfe mir auf die Brust. Frage mich, ob das Programm auch Gestik analysieren kann. Das Brustklopfen wirkt bestimmt munter, engagiert und stabil. Sicher. "Genau genommen tragen die Sammler die Schuhe ja gar nicht, aber ich biete sie trotzdem nicht an. Nein, wirklich, Ehre ist Ehre! Ich selber besitze Montabaur die erste Produktionslinie komplett und trage die nie. Ich trage nur Springers Retro, aber auch die nicht so oft. Zwischen der letzten Quarantäne und der jetzt war ich nur zwei Monate freigetestet und ehrlich, den Weg zur Schule lege ich meistens mit dem Bord zurück. Das Bord habe ich mir selber gekauft, weil ich genug mit dem Sneakerhunting verdient habe. Man muss halt fleißig und schnell sein. Ich scrolle tausend Sneaker durch. Tausend klingt übertrieben? Eher untertrieben. Ich checke jeden Tag die Angebote bei E S S, bei BAZAR, E-Mall und E-Markt. Bei XXL-Shop kuck ich nicht mehr. Da sind zu viele Sneakerhunter unterwegs. Das lohnt sich nicht. Wenn ich drauf biete, sind sie schon weg. Die haben Zeitbooster in ihren Geräten. Das kann ich mir nicht leisten, noch nicht. Das kommt schon noch. Ich will ein richtig guter Sneakerhunter werden. Bisher tröste ich mich damit, dass es echt gut läuft dafür, dass ich keine Pimps habe, keine Zeitbooster, keine Verdoppler und keine automatischen Sichtungsprogramme und gute Botknacker. Dafür hab ich Ahnung. Ich schau mir alle Kataloge an und hab im Blick, was gerade gut läuft am Markt."

Das Programm unterbricht mich. Eigentlich so wie jeder, wenn ich zu lange über Sneakers rede. Interessiert keinen. Und mit anderen Sneakerhuntern kann ich nicht reden, weil ich meine Tricks nicht verraten kann.
"Gesichts- und Stimmanalyse ergibt: leicht labiler Zustand. Pulsanalyse: stabiler Zustand.
A F Informationen: stabile Nahrungsentnahme. A T-Informationen: bestätigt stabile Verdauung. Bei drei Tagen in Folge mit leicht labilen Ergebnissen startet automatisch die Stabilisierung. Quarantänekontrolle Ende. Nehmen Sie die Tabletten aus der Klappe."
"Ja, danke, du mich auch."

Ich schaue den Vogel an und er mich. Was jetzt? Ich hab keine Lust auf eins der Psychoprogramme zum Stabilisieren. Dann bin ich eben morgen nicht leicht labil und schon muss ich kein Psychoprogramm starten. Ich werde mir einen Direktfilter aufs Gesicht legen und alle Fragen mit eins beantworte. So einfach ist das, wenn man in Ruhe schlecht gelaunt sein will. Martam aus meiner Klasse macht das nur so. Martam sagt besser schlechte Laune als gar keine.

Ich starte im Musikerzeuger eine Zufallskomposition. Gestern habe ich einen Musikerzeuger runtergeladen, der auf mich reagiert, was gestern eher ein Geleier als Musik war. Als wäre ich innen ausgeschürft und ohne jeden Rest Bodenschatz.

Bin ein bisschen gespannt, was heute aus den Deckenboxen kommt. Gespannt heißt das, wenn man interessiert ist an dem, was passieren wird. Das habe ich nicht oft. Das ist neu. Gut. Wie etwas mit Kohlensäure. Was glaubt das Programm wie ich drauf bin? Bin ich aus der Mitte? Weil ich Elternteil belogen habe? Eigentlich fällt es mir leicht zu lügen, wenn wir nur am optischen Zugang reden. Oder bin ich aus der Mitte, weil mir ein Vogel ins Gesicht geklatscht ist? Weil der Vogel jetzt in meinem Zimmer ist und mich mit seinen so lebhaften Augen ansieht? Dieses Leben in seinen Augen, so klein und emsig, unermüdlich, wollend, seiend. So wie ich mich auch gerade anfühle, wenn ich es richtig merke. Die Zufallsmusik ist relativ schnell. Sie wird aus meinem Puls, Herzschlag und anderen messbaren Körpervorgängen erzeugt. Die Texte und Stimmen werden passend dazu erzeugt. "Laut", sage ich leise. Meine Stimmung ist also wie Chöre, findet das Programm, starke, hohe Stimmen, bisschen als ob es Frühling und Herbst gleichzeitig wird. Hauptsache nicht Sommer mit dem beschissenen Bestäuben. Alle hassen Sommer. Zu heiß, zu viele Stürme, Bestäuben rund um die Uhr und zu heiß, sagte ich schon.

Ich frage den Vogel, ob er Sommer mag. Er ruckt mit dem Kopf. Ja oder Nein. "Du weißt gar nichts, oder? Was diese Zweibeiner treiben. Die fahren auf diesen Dingern rum, obwohl sie brauchbare Beine haben." Der Kopf des Vogels zuckt Ja oder Nein. So einfach ist es in einem Vogelkopf wahrscheinlich nicht. Es ist komplexer als Ja oder Nein. Vielleicht vielleicht. Oder oder. Aber aber. Und und.
Die Stimmungskomposition wird ruhiger. Der Text ist:
Inside
Inside
Inside you.
the storm, the wind, inside you.
Immer wieder. Es ist ein preiswertes Programm.

"Türkis ist beim Bestäubungsdienst", erzähle ich dem Vogel. Das findet das Tier ok, glaub ich. "Weißt du, warum ich nicht muss? Wegen Quarantäne. Und weißt du, warum ich in Quarantäne bin? Es ist sehr einfach positive Tests zu bestellen. Der halbe Klassenzug ist in Quarantäne im Sommer. In den Nachrichten habe ich gehört, dass die neue Variante vor allem die Jugendlichen befällt. Oder weil sie wissen, wie einfach es ist positive Tests zu beschaffen. Hast du Humor?" Ich seh den Vogel an. Er hat Flügel, Füße, Auge, kein Humor zu sehen, aber mein Humor ist auch nicht zu sehen.

"Ich heißt Sneaker", sage ich. "Weil ich mit Sneakern deale. Hast du ja vorhin schon gehört bei der Stimmenanalyse, oder? Hast du auch eine Stimmenanalyse von mir gemacht als ich gesprochen habe? Ich bin vertrauenswürdig, oder? Das hört man. Ich werde dir nichts tun. Nach dem Sturm lasse ich dich raus. Ich habe eigentlich nicht viel zu erzählen. Weil ich nicht viel erlebe. Etwas erleben ist ja was anderes als etwas zu konsumieren. Du siehst ein Foto von einem Brot oder du isst ein Brot. Ich kann nur über Sneakers reden. Ich weiß nicht, ob du weißt, was Sneaker sind. Diese Teile, die wir unten an unseren Beinen haben." Ich zeig ihm meine Beine. Der Vogel erschrickt und tippelt ein Stück weg. Dann schaut er mich an. Ich glaube, er mag, wenn ich mit ihr rede. Nur schnelle Bewegungen sollte ich vermeiden.

"Du bist also ein Vogel, ja?" Ich nicke ihm zu. "Erzähl du doch mal. Wie ist das so? Ist das besser als Mensch? Bestimmt. Du machst dir keine Sorgen. Ich mach mir eigentlich auch keine Sorgen. Ist doch sowieso alles schon gelaufen. Worüber sollte ich mir Sorgen machen? Besser wird’s nicht, aber schlechter auch nicht. Verstehst du? Die Feuer- und Sturmwarnungen und so. Ist ja eigentlich egal, wenn man immer im Zimmer ist. In Zimmer steckt ja immer schon drin. Mir fällt gerade ein, dass du ja immer draußen bist." Ich schaue den Vogel lange an. Er lange mich.

"Fast unmöglich, dass du noch lebst. Wie hast du das gemacht?" Ich stelle mir vor, wie der Vogel sich vor den täglichen Stürmen versteckt. Wo versteckt er sich? Mir fallen die alten S-Bahnhöfe ein, in denen jetzt die Gewächshäuser sind. Die Musik ändert sich. Das klingt so wie die Gewächshäuser aussehen. Ringsum kahl, sandig, eine sturmbeschädigte, aufgegebene Stadt. Dann diese Gewächshäuser aus Sicherheitsglas. Die Anzuchtlampen leuchten weiß. Das grün der Pflanzen schimmert wie elektrisch. Die Musik sirrt und flackert jetzt. Die Singstimme ist aus meiner Stimme erzeugt. Ich singe: "Ich bin immer im Zimmer, ich bin immer bei dir. Ich bin für immer im Zimmer."

Das zieht mich runter. Bestimmt, weil ich die Blocker nicht genommen habe. Es ist ganz komisch so viel zu fühlen. Mir ist ein bisschen schlecht. Als ob zu viele Programme gleichzeitig laufen.
Ich versuche mich auf den Vogel zu konzentrieren. Wie er schaut. Was in ihm drin los sein könnte.

Ich stelle mir vor, wie der Vogel vom Sturm durch die Luft geschleudert wird. "Bist du schon häufiger Menschen gegen das Gesicht geklatscht?" Ich sehe ihn lange an und er schaut sich im Zimmer um. Ich kann nicht erkennen, ob er schon mal ein Zimmer gesehen hat. Ein Zimmer ist auch wirklich was komisches, denn es ist drinnen und irgendein Teil von mir schreit die ganze Zeit, dass drinnen nicht draußen ist, weil drinnen eben drinnen ist und draußen das eigentliche, überhaupt das, dass wo man sein sollte, also ich, wo ich sein sollte.

Da hilft auch nicht die Topfpflanze, die jeder Mensch zur Geburt vom Gesundheitsministerium geschenkt bekommt. Es ist eine Pflanze, die nicht eingeht und die ihre Grundversorgung digital über den Übertopf erhält. Wenn sich jemand zusätzlich um die Pflanze kümmert, dann kann sie wachsen, blühen und sogar Früchte tragen. Eine Mischung aus Aprikose und Kirsche. Die Blüten sind sehr schön. Aber drinnen ist trotzdem nur drinnen, Aprikirsche oder nicht, blühend oder nicht. Ich schaue meine Aprikirsche an. Sieht normal aus, so wie die meisten Aprikirschen von Sechszehnjährigen.

Die Aprikirschen meiner Elternteile sind richtig schön, aber ich weiß nicht, ob sich meine Elternteile wirklich selber darum kümmern oder jemanden beauftragt haben. Das ist sehr teuer und ein bisschen so wie eine Sünde. Es sind schon Politikerinnen im errechneten Wahlranking ein paar Plätze abgestiegen, weil ihre Gärtnerinnen ausgepackt hat. Es ist ein totales Statussymbol, dieser Baum. Alle sehen sie an, wenn sie zu Besuch sind und denken: "Ach, oh, du bist aber ein guter Mensch, diese und jene Eigenschaften." Aber trotzdem es ist nur eine Pflanze, nur eine und keine Landschaft. Irgendetwas in mir will eine Landschaft. Aber nicht nur auf einem Rollladen und nicht nur die überkuppelten Nationalparks, in die man kann, wenn der Arzt das verschreibt und dann kann man auf diesen erhöhten Wegen laufen, oh und ah. Vor dir Leute, die Oh und Ah sagen. Vor denen und so weiter. Man darf nichts in diesen Nationalpark berühren. Weil das auch nicht so gesund ist, weil der Berührungsbedarf komplett unterdrückt wird, gibt es Berührungstafeln, mit Stücken von Rinde, Moos, Tannenzapfen, einem Fliegenflügel. Die Leute stehen dort, berühren und berühren und berühren. Am Ausgang kann man noch ein paar Sachen machen, die auch wichtig sind: sägen, Holz hacken, ein Brot an einem Feuer essen, am Pflückfeld mit vierblättrigem Klee vierblättrigen Klee pflücken. Damit ist der Kopf zufrieden. Der Körper. Der Mensch. Er hat Natur berührt. Draußen. Ein Wunder, dass man die Luft dort atmen darf. Obwohl man sie den Tieren wegatmet, denn eigentlich sind die Parks für die Tiere. Der Mensch gehört nicht mehr zur Natur. Aber immerhin können die Tiere da sein und alles berühren und anfressen, anpinkeln und umschubsen. Ich stelle mir vor, wie ein strenger Lehrer zu einem Schüler sagt: "Weißt du, wenn du alle in der Klasse störst, in die Mitte des Raumes kackst, eine Bombe mit dir rumträgst und alle auf den Kopf haust und fressen willst, tja, dann musst du gehen. Dann gehörst du nicht mehr zu uns."

Wir haben uns selbst rausgeschmissen, danebenbenommen und dann selbst entschieden, dass es der Rest besser hat ohne uns. Das ist in all den Jahrtausenden wenigen anderen Lebewesen passiert. Nicht mal der Wolf ist rausgeflogen, aber wir müssen aus der Klasse, aus dem Zimmer, vom Schulhof, hinter den Zaun. Alles bekommt von uns einen Zaun zum Schutz vor uns. Den Zaun haben wir selbst hingestellt. Für uns. Also für die anderen.

Inzwischen bin ich richtig unruhig geworden. Die Stimmungsmusik ist wirr, ohne Melodie, wütendes Geschrammel. Es stöhnt und knurrt. Ich will richtig in eine Landschaft. Das alles erzähle ich dem Vogel. Das muss er doch verstehen. Er weiß zwar auch nicht viel und ich wirklich nur ein bisschen mehr als er, aber selbst er weiß, dass drinnen nur drinnen ist, nicht falsch oder böse, einfach nicht draußen. Der Vogel will auch raus. In den Himmel. Auf Bäume und so weiter. Vielleicht will er zu den anderen Vögeln und sie sind immerhin auch alle draußen. Rumfliegen, in großen Kreisen, Krümel suchen, am Brunnen trinken, auf einem Dach landen und wieder losfliegen. Ich sollte ihn rauslassen, aber der Sturm ist gleich direkt über der Stadt. Aber er will raus. Er will. Jetzt ist er unglücklich. Draußen ist er glücklich. Wenn auch nur für den Moment bis er gegen ein Gebäude geschleudert wird und dort einen Fleck hinterlässt. Soll ich das für ihn entscheiden? Hier drin unglücklich oder draußen tot? Aber dann nicht mehr unglücklich. Wenn es so einfach wäre, könnte ich ihn auch erschlagen. Oder mich.

In dem Moment gehen die automatischen Sturmläden am Fenster runter. Der Vogel flattert auf und von einer Zimmerwand zur anderen. Das klatscht wie nasse Waschlappen. Ich springe auf und will irgendwas tun, stehe aber mit ausgebreiteten Armen im Zimmer und tue nichts. Die Sturmläden rattern weiter und trennen den Vogel und mich vom draußen. Ich fühle das was er fühlt, in einem gigantischen Ausmaß, in voller Größe, ganzer Wucht, umfänglicher Wahrheit und Ewigkeit. Er will nicht drinnen sein, kein Tier will das. Der Mensch sollte nicht drinnen sein. Kein Mensch will das. Drinnen ist nicht nur nicht draußen. Es ist falsch. Ganz und gar. Ich will auch raus. Wie der Vogel. Ich stehe im Zimmer und beginne mit den Armen zu schlagen, als wären sie Flügel, um noch mehr zu fühlen, was der Vogel fühlt. Er will fliegen. Ich will fliegen. Wir fliegen beide nicht. Weil: drinnen. Draußen könnten wir nicht fliegen. Weil: Sturm. Wir könnten schon fliegen, aber vor allem irgendwo dagegen. Tod. Weil: Aufprall.

Also flattern wir im Zimmer herum. Der Vogel sieht mich an, als wäre da etwas, das ihm bekannt vorkommt. "Alles gut", sage ich. "Wenn der Sturm vorbei ist, gehen wir nach draußen."
Ich fühle es. Das ist kein Moment, der einfach so vorbei geht. Das ist ein Moment, ab dem alles anders sein wird. Ich warte den Sturm ab und dann gehen wir. Der Vogel und ich. Ich und der Vogel und alle Vögel in meinem Kopf. Und alle Menschen im Kopf des Vogels. Wenn Vögel eine Sprache hätten und ein Wertesystem und Beleidigungen, dann würden sie vielleicht sagen: Du hast ja einen Mensch. Das ist ganz schön viel.

Ich packe jetzt.
Der Sturm ist jetzt direkt über der Stadt. Der Strom fällt aus. Die Musik ist weg. Der Notstrom übernimmt mit einem sanften Hinweiston, als wäre nichts weiter.
"Sturmprogramm aktiviert", sagt Tani. "Bitte Sturmmeditation mit Kopfhörern ausführen. Beginn Sturmmeditation in zwei Minuten." Der Kopfhörer kommt aus der Wand und blinkt. Ich setze ihn auf, weil Tani da nicht mit sich diskutieren lässt. Bei Starkregen Starkregenmeditation. Bei Sturm Sturmmeditation. Ich diskutiere nicht mit Programmen. Denn sie diskutieren nicht mit mir.

"Sturmmeditation startet", kommt es aus den Kopfhörern. "Legen Sie sich in eine ruhige Position."
Ich ziehe meinen Rucksack aus der Wand und ein paar Klamotten. Dann blinkt die Tür, schließt sich wieder und verriegelt sich. Tani ist dagegen, dass ich weitere Sachen aus der Wand hole. Alles verriegelt gleichzeitig. "Legen Sie sich in eine angenehme Position." Ich lege mich auf den Boden, ziehe den Rucksack auf meinen Bauch, öffne ihn und stopfe die Kleidungsstücke rein. Der Vogel hockt ganz in meiner Nähe auf dem Boden. Ich könnte den Arm ausstrecken und ihn berühren, aber ein Vogel ist keine Socke, die man berühren kann, nur weil sie in der Nähe ist. Wenn der Vogel erschrickt, ist er nicht mehr in der Nähe. Also versuche ich nicht das Tier zu berühren, damit es in der Nähe bleibt. Wir schauen uns an. Was tust du da? Ja, was tust du da? Was wir übereinander denken unterscheidet sich kaum. Was wir einander fragen ist das gleiche. Was wir einander antworten ist identisch: das siehst du doch. Einer sitzt und einer schiebt sich über den Boden Richtung Badezimmer.

"Sie befinden sich in einem sturmsicheren Haus mit sturmsicheren Fenstern und einem automatischen Sturmschutz für Fassade, Fenster und Dach. Sie können ganz in Ruhe abwarten, dass der Sturm vorüberzieht. Sie und ihr Haus sind geschützt durch moderne Technik und beste Materialien", sagt die Stimme im Kopfhörer. Ich habe mich ins Bad gerutscht, die Tür mit dem Kopf aufgeschoben und schiebe mich nun weiter zu der Wand, in der meine Tabletten und Pflegeprodukte sind. Die Wandunterbringungen blinken, sind also verriegelt.

"Atmen Sie ein, wobei sie bis vier zählen. Atmen Sie aus und zählen dabei bis acht. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht."
Ich versuche so viel Rücken wie möglich auf dem Boden zu lassen und hebe meine Beine. In meinem Leben braucht man keine Bauchmuskeln. Sie werden in der Bewegungstherapie wie es da heißt "angesprochen", aber sonst brauche ich sie nicht. Ich liege ja sonst nie auf dem Boden, versuche dem Bodensensor vorzuspielen, dass ich meine Sturmmeditation mache, während ich zeitgleich meine Zahnbürste vom Magnethalter trete. Kick. Treffer. Die Zahnbürste fliegt in die Dusche.

"Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht", zählt es im Kopfhörer. Ich atme.
"Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht", dann schiebe ich mich zu den Duschfliesen und -angel mit dem Arm nach meiner Zahnbürste. Komm nicht ran. Ich schiebe mich weiter in den ebenerdigen Duschbereich. Als ich meinen Unterkörper schon ein ganzes Stück auf die Duschfliesen geschoben habe, fällt mir ein, dass meine Dusche auf automatisches Auslösen bei Belastung des Bodens eingeschaltet ist. Ich überlege, ob das Sturmprogramm auch das blockiert oder nicht, da kommt schon Wasser von oben. Also oder nicht. Wäre das auch klar und ich zur Hälfte nass. Der Vogel flattert im Nebenraum herum.

"Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht", zählt es in meinem Kopf.
Meine Hose klebt. Der Vogel flattert. Der Sturm tost über die Stadt, reißt mit sich, was er kann und schleudert was gegen was. Es ist wie in dem Magen von einem rennenden Untier. Ich weiß, dass das Haus sicher ist, aber.
"Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht."
Ich hätte warten können, bis der Sturm vorbei ist und damit die Sturmmeditation, aber ich finde gerade jede Aufgabe groß genug für meinen Willen. Ich will in eine Landschaft. Jetzt. Ich habe ein Vogelgehirn. Ich will nur raus. Ich flatter in mir gegen die Körpergrenzen.

"Du bist in Sicherheit. Du bist in einem sicheren Haus mit einem sicheren Sturmschutz. Dir kann nichts passieren. Du bist in Sicherheit."
Wenn es draußen richtig rüttelt, beginnt die Sturmmeditation also zu duzen. Das habe ich bisher nie mitbekommen, weil ich immer eingeschlafen bin. Vermutlich ist es eher eine Hypnose als eine Meditation. Aber jetzt bin ich nass und will raus.
"Du bist an einem sicheren Ort. Dir kann hier nichts passieren."

Das Gefühl habe ich auch. Mir kann an diesem Ort nichts passieren, denn es passiert nichts und das ist nicht gut, sondern schlecht. Ich bin sechzehn Jahre alt. Es sollte doch irgendwas passieren in meinem Leben außer, dass ich in Sicherheit bin. Und da bin ich mir wirklich absolut sicher.
Nach dem Sturm sind wir raus hier. Der Vogel und ich.
Wir werden aus dem Fenster springen und dann mal sehen was passiert.

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