PEDRO GONZALEZ FERNANDEZ
ORF musikprotokoll 2022
Whodentity
Das Festival für Erkundungen des Neuen und noch Ungehörten, das musikprotokoll, geht, wieder über die Bühne. Heuer ist das erdachte Kunstwort „Whodentity“ das Festivalmotto, unter dem aktuell drängende Fragen nach Identitäten beleuchtet werden sollen. Wer ist „wir“? Welche Identität schreibt wer wem gesellschaftlich zu? Und wer ist „man(n)“ in einem bestimmten Kontext?
30. September 2022, 10:39
Whodentity
Das ORF musikprotokoll findet vom 6. bis zum 9. Oktober in Graz statt. Ö1 berichtet in zahlreichen Sendungen den ganzen Oktober, u. a. in Le week-end, Radiokolleg und Zeit-Ton. Hier ein Überblick
Viele Uraufführungen und eigens von Ö1 produzierte und in Auftrag gegebene Arbeiten finden beim steirischen herbst in Graz und im Radio bzw. Netz Jahr für Jahr statt. Für das musikprotokoll 2022 und seine Konzerte mit dem Ensemble Modern, dem Vokalensemble Cantando Admont und dem RSO Wien - inzwischen auch von einer Chefdirigentin geleitet - wollten wir nach fast 55 Festivaljahren gerade im strukturell konservativsten und immer noch stark männlich dominierten Genre das Steuer gänzlich herumreißen und ausschließlich Musik von Komponistinnen ur- und erstaufführen.
Das RSO Wien unter Yalda Zamani
Am Pult des RSO Wien steht heuer mit Yalda Zamani eine Künstlerin, die auch jenseits des Dirigierens als Schöpferin experimenteller Performances hervorsticht. Die Werke für Orchester und Solistinnen, die sie in diesem Konzert uraufführt, stammen von der britisch-iranischen Künstlerin Shiva Feshareki, die als Turntable-Solistin auch selbst auf der Bühne steht, und von der kroatisch-österreichischen Komponistin und Veranstalterin Margareta Ferek-Petric, deren Klavierkonzert von der österreichisch-rumänischen Pianistin Maria Radutu gespielt wird.
In der anderen Hälfte dieses Konzerts knüpfen wir an musikprotokoll-Traditionen an. Von Olga Neuwirth kommt als Auftragswerk ein Doppelkonzert für Violoncello und Schlagwerk zur Erstaufführung, dessen Cellopart Tanja Tetzlaff übernimmt. Und weil im Wort „Whodentity“ die Identität hinterfragt wird, steht noch ein Werk mit dem Titel identifications auf dem Programm. Es wurde 1970 komponiert und 1996 überarbeitet von jener Komponistin, die den berüchtigten Frauenanteil von 0,6 Prozent in dieser Zunft während der 1970er nahezu allein ausmachte: die 1928 in Zagreb geborene und 2012 in Wien verstorbene Luna Alcalay. Mit ihren identifications kommentiert sie posthum unser Motto „Whodentity“.
Der Rolls-Royce des Ensemblespiels
Apropos Festivaltraditionen: Es war in den späten 1980er Jahren, als das Ensemble Modern zum ersten Mal zum musikprotokoll nach Graz kam. Einer der jungen österreichischen Komponisten, die damals ein Auftragswerk komponierten, Karlheinz Essl, merkte an, wie großartig es sei, für den Rolls-Royce des Ensemblespiels schreiben zu können. Den Rolls-Royce konnte sich das musikprotokoll eher selten leisten, aber 2022 ist es wieder so weit, und diesmal gibt es ausschließlich Musik von Komponistinnen zu hören. Es stehen Ur- und Erstaufführungen von der kroatisch-österreichischen Komponistin Mirela Ivičević und der serbisch-deutschen Komponistin Milica Djordjević auf dem Programm, ebenso wie von der Slowenin Petra Strahovnik, von Justė Janulytė aus Litauen und last but not least von Tania León, die 1943 in Havanna geboren wurde und während der letzten Jahrzehnte in den USA gelebt hat.
Festkonzert für die internationale Gesellschaft für Neue Musik
Dem Schaffen von Komponistinnen widmet sich beim diesjährigen musikprotokoll auch das renommierte, von Cordula Bürgi gegründete und geleitete Vokalensemble Cantando Admont, das mit diesem Auftritt sein Festivaldebüt gibt. Es ist dies ein Festkonzert für die vor 100 Jahren in Salzburg gegründete Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Auf dem Programm steht unter anderem eine Uraufführung der steirischen Komponistin Elisabeth Harnik, die ein Gedicht der ukrainischen Autorin Iryna Shuvalova vertont hat.
Aktuelle Musik aus der Ukraine
Auch die aktuellen weltpolitischen Geschehnisse zeichnen sich in einem Festival des Zeitgenössischen immer ab: Die Bratschistin Kateryna Suprun, die bereits 2019 mit dem sensationellen, ukrainischen Danapris String Quartet in Graz gastierte, musste zu Beginn des Ukraine-Krieges nach Berlin fliehen. Im März erschien ihr Soloalbum „Constellation“, das sie unter pandemischen Bedingungen noch in Kiew eingespielt hat. Es ist eine fein schillernde, zart anmutende Zusammenstellung aktueller Musik aus der Ukraine, die es nun erstmals in Österreich in einem Konzert zu entdecken gilt.
Eine breite Palette von Veranstaltungen
Beim ORF musikprotokoll im steirischen herbst gibt es neben klassischen Konzertformaten eine breite Palette von Veranstaltungen zu erleben: Installationen in Graz und auch als Onlineprojekte, Performances, Lectures, wissenschaftlichen Diskurs, Talks. Beispielsweise komponierte und forschte die Künstlerin Pia Palme drei Jahre lang am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz zu Komposition, Musiktheater und Feminismus aus der Position der Künstlerin. Dabei entstand unter anderem die viel beachtete Anthologie „Sounding Fragilities“, die sie im Rahmen des musikprotokolls präsentiert.
Aber interessante Aspekte verbergen sich auch jenseits der Binarität von weiblich/männlich in widersprüchlichen, subtilen, bunten, radikaleren Konfigurationen. Nicht einfach eine männliche Vormachtstellung, sondern die Zugehörigkeitsmarker von „human beings“ als solchen und „künstliche Intelligenz“ stehen beispielsweise zur Disposition. Alexander Schuberts Unity Switch und auch sein Projekt mit dem KI-Programm „Av3ry“ als nicht binärer Person bereichern die Suche nach einer „Whodentity“.
Das musikprotokoll, das auch heuer wieder viele junge Künstler:innen in Zusammenarbeit mit dem europäischen Festivalnetzwerk SHAPE präsentieren wird, wird zur Gänze im Rahmen etlicher Ö1 Sendungen nachzuhören sein.
Service
Gestaltung
- Christian Scheib