Straßenzug in einer ukrainischen Stadt

AP/EVGENIY MALOLETKA

Essay von Oksana Sabuschko

"Die längste Buchtour"

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko absolviert "Die längste Buchtour" ihres Lebens seit dem 23. Februar. Ihr Essay verknüpft persönliche Erfahrungen mit der 300-jährigen Geschichte ihres Landes als Geschichte des Widerstands.

Einen Tag vor Kriegsausbruch war sie für eine zweitägige Buchpräsentation von Kiew nach Warschau gereist, seitdem reiste sie als "die Frau mit dem Koffer" von Talkshow zu Podiumsdiskussion, absolvierte Interviewmarathons und hielt eine feurige Rede im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg. Die ständige zeitliche Begrenzung, die latente Aufforderung sich kurz zu fassen und die fehlende Komplexität der knappen Antworten bereiteten den Weg des vorliegenden Essays, der vor allem von der Schockstarre der Anfangswochen zeugt.

Warum haben wir nichts aus der Geschichte gelernt?

Blaugelbes Buchcover

DROSCHL

"Entgegen Putins Lügen funktioniert die Ukraine jetzt erstaunlich effizient, trotz des Krieges. Aber damals im Frühjahr war das noch nicht klar. Der Westen zögerte und all meine Schreie und feurigen Reden wurden nicht erhört. Das war vor allem eine intellektuelle Enttäuschung, die den Wunsch in mir weckte, zurückzublicken und zu fragen, warum wir nichts aus der Geschichte gelernt haben und stur dieselben Fehler noch einmal machen, die längst analysiert und diagnostiziert sind", erzählt Sabuschko über die Entstehung des Buches.

Drei Seiten und zwei Jahrhunderte in einem Satz

Auf knapp 180 Seiten schildert sie scheinbar atemlos Hintergründe, Vorahnungen und Hergänge der aktuellen Kriegssituation. Manche Sätze umfassen mehrere Seiten und Jahrzehnte. Kein Produkt der Kriegswirren, sondern erprobtes stilistisches Markenzeichen, betont die Autorin.

"Ich bin berüchtigt für meine langen Sätze - die ukrainische Literaturkritik hat sogar eine Bezeichnung dafür: Der 'Sabuschko-Satz' geht über zwei bis drei Seiten und besteht aus zahlreichen Einschüben, Klammern und Abschweifungen. Ich liebe diese verworrenen Gedankengänge, diese kleinen Details, die man unterwegs beim Blick aus dem Zugfenster erhascht, weil man eben nicht nur das Ziel vor Augen hat."

David gegen Goliath

Entlang dieser Details und Einschübe mischt Sabuschko persönliche Erinnerungen und politische Analysen und geht dabei weit in die ukrainische Geschichte zurück. Die Stoßrichtung ist mehr als deutlich: David gegen Goliath, mutige Zivilbevölkerung gegen unzivilisierte Barbaren lautet die Narration, die die Autorin mit historischen Daten füttert und mit zahlreichen Anekdoten spickt, etwa als russische Truppen 2014 das Theater von Charkiv anstelle des Rathauses zerstörten, weil sie ahnungslos auf das prächtigste Gebäude der Stadt feuerten, während in Kiew engagierte Freiwillige fast unbemerkt die Aufgaben der für zwei Wochen abgesetzten Polizei übernahmen und somit (die von oben provozierten Zustände von) Chaos und Anarchie verhinderten.

Es liest sich wie ein Märchen, aber es sind reale Russen …

Zahlreiche solcher Episoden machen die komplexe Lektüre anschaulich und verleihen dem Text bisweilen sogar fantastische Züge. Oksana Sabuschko: "Es liest sich tatsächlich wie ein Märchen, aber das Problem ist: es sind reale Russen, die in die Ukraine eindringen und schreckliche, reale Genozide verüben. Und das Bestreben der westlichen Entscheidungsträger seit 2008, ausgewogen beide Seiten des Konflikts anzuhören - quasi 5 Minuten Hitler, 5 Minuten einen Juden - das kotzt mich an und hat meinem Buch einen ziemlich bitteren Ton verpasst."

Dieser Tonfall passt gut ins Gesamtbild und trägt wesentlich dazu bei, dass "Die längste Buchtour" plastisch und eindringlich gleichermaßen die äußeren wie die inneren Erschütterungen schildert, die der Angriffskrieg seit dem 24. Februar verursacht hat.

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Oksana Sabuschko, "Die längste Buchtour", Essay, aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil, Droschl
Oksana Sabuschko

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