Residential-School-Überlebende während einer Anhörung

AP/SEAN KILPATRICK

Tao

Geraubte Traditionen

Sie wurden verschleppt, misshandelt, missbraucht, getötet: In den sogenannten Residential Schools in Kanada wurden zig Tausenden Kindern ihre indigenen Traditionen gewaltsam ausgetrieben. Die Schulen waren mehrheitlich von christlichen Kirchen geführte Internate, das System bestand mehr als 150 Jahre lang.

Mittlerweile sprechen viele in diesem Zusammenhang von einem kulturellen Genozid. Indigene Gruppen wie die Inuit wurden ihrer kulturellen und spirituellen Traditionen beraubt - etwa durch rigorose Verbote. So verbieten Anfang des 20. Jahrhunderts christliche Geistliche, kurz nach ihrer Ankunft in Inuit-Gebieten, den traditionelle Kehlkopfgesang Katajjaq. Angeblich hören sie in den traditionellen Gesängen die Stimme des Teufels.

Nur eine Form der Unterdrückung von Inuit, die die Influencerin Shina Novalinga in ihren Videos thematisiert. Im Kurzformat der Plattform TikTok spricht die 23-Jährige von überhöhten Lebensmittelpreisen in Reservaten, der enorm hohen Rate von Morden an indigenen Frauen und von den Entführungen, Misshandlungen und Ermordungen indigener Kinder durch Geistliche in sogenannten Residential Schools im 19. und 20. Jahrhundert.

„Proud Indigenous, Inuuvunga, I am Inuk, Throat singer“

Erst Anfang März wurden in Kanada 169 weitere Gräber auf dem ehemaligen Grundstück einer solchen Schule gefunden. Im Sommer 2022 hat Papst Franziskus Vertreter:innen indigener Communitys in Kanada besucht und um Vergebung für das Leid in katholisch geführten Internaten gebeten.

Das Verbot von indigenem Kehlkopfgesang hält sich in Kanada bis in die 1980er Jahre. Danach verbreiten sich die traditionellen Gesänge wieder langsam im Norden des Landes, und durch Frauen wie Shina Novalinga und ihre Mutter Kayuula nun auch im Internet.

Und es geht auch um spirituell bedeutsame Gegenstände, die den Gemeinschaften teilweise gestohlen und schließlich in westlichen Museen ausgestellt wurden. Kein auf Kanada beschränktes Phänomen.

Ab Ende des 15. Jahrhunderts werden Menschen von der Westafrikaküste verschleppt. Durch den Handel mit versklavten Menschen verbreitet sich westafrikanische Kultur und Spiritualität unter anderem auf den Kapverden, einem der größten Umschlagplätze des transatlantischen Sklavenhandels, und auch auf Kuba. Die Kolonialmächte und die christlichen Kirchen verbieten dort beispielsweise traditionelle Musik und Tanz, wichtige Identitätsstifter und Bestandteile von Spiritualität und Riten.

Vor allem seit Ende Juni wird die Frage, wie europäische Länder mit einst von ihnen unterdrückter, verbannter oder gestohlener indigener Kunst umgehen sollen, breit diskutiert. Auslöser dafür ist die Entscheidung deutscher Museen, die sich in ihrem Besitz befindenden Benin-Bronzen zurückzugeben - bronzene Skulpturen aus dem ehemaligen Königreich Benin, heutiges Nigeria, Abbilder verstorbener Königinnen und Könige, zu ihren Ehren gegossen und in Tempeln und an Schreinen platziert.

"These are historical, spiritual objects. They are not meant to be in a museum.“

Die Herrscher:innen Benins waren zugleich politische und spirituelle Oberhäupter. Ihre metallenen Köpfe erhalten nach ihrem Tod einen ähnlichen Stellenwert wie heilige Marienstatuen in Kirchen römisch-katholisch geprägter Länder. 1897 plündern britische Soldaten den Königstempel und verkaufen die Bronzewerke in Europa und Nordamerika.

Jahrhunderte später fängt eine neue Generation an, sich die Kultur, Musik und Spiritualität ihrer Vorfahr:innen zurückzuholen: Sie lernen Kehlkopfgesänge, trommeln von ihren Eltern weitergegebene Rhythmen und initiieren traditionelle Musikprojekte mit dem Wunsch, einst Unterdrücktes wieder aufleben zu lassen.

Gestaltung: Amelie Sztatecsny