Michael Köhlmeier

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Literatur

Michael Köhlmeier: "Sprache und Differenz"

Dieser Text entstand für Ö1 im Rahmen der Sendung "Literatur am Feiertag" am 26. Oktober 2022.

Ich kann nicht singen, schwanke um den richtigen Ton herum, aber ich habe es immer gern getan und tue es immer noch gern, bin dabei fahrlässig gegenüber den Ohren anderer, das gebe ich zu. Ich hatte immer Respekt vor den Liedern, die allen gehören, ich meine damit: Von denen habe ich mich meistens ferngehalten. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als selbst Lieder zu schreiben. Und da tat sich gleich ein Problem auf. Ich konnte nicht und kann nicht auf Hochdeutsch singen. Es ist, als hätte ich eine Soletti-Stange quer im Hals. Dagegen im Dialekt singen, das ging, das ging sogar sehr gut. Sogar die Töne erwischte ich besser, wenn ich im Dialekt sang.

Warum ist das so?

Ich habe mir Überlegungen gemacht: Wenn ich singe, dann vor Leuten. Weil ich nun einmal kein guter Sänger bin, ist der Kreis der Leute, vor denen ich singe, klein. Es sind Freunde und Menschen aus meiner Umgebung. Nach Los Angeles werde ich nicht eingeladen. Also brauche ich mich erst gar nicht darum zu bemühen, auf Englisch zu singen. Es wäre lächerlich. Wenn ich öffentlich singe - wozu ich hier bei uns manchmal eingeladen werde -, dann sitze ich vorher und hinterher mit den Leuten zusammen, denen ich etwas vorsinge, und ich rede mit ihnen, und ich rede mit ihnen in unserem Dialekt. Warum sollte ich oben auf der Bühne anders mit ihnen kommunizieren als unten?

Im Singen kommt das sogenannte Authentische besser zum Ausdruck als im Schreiben oder im Sprechen. Es ist schwer, singend zu bluffen. Man glaubt dir nicht. Das kann ja wurscht sein. Wenn du gut singen kannst, spielt die Authentizität wahrscheinlich keine so große Rolle. Dem Pavarotti musste man den Macbeth nicht glauben, eher umgekehrt: Dem Macbeth musste man den Pavarotti glauben. Wenn man aber wie ich so gut wie gar nicht singen kann, dann gibt es nur eine Chance: die Authentizität. Und die konnte ich nur im Dialekt bieten.

Nun ist der Dialekt zwar schön und eben authentisch, aber doch eng. Mir soll niemand einreden wollen, im Dialekt könne man sich besser ausdrücken als im Hochdeutschen. Das ist sture, besserwisserische Nostalgie. Allein der Wortschatz unseres Dialekts im Vergleich zum Hochdeutschen ist erbärmlich. Aber darauf kommt es nicht an. Es ist wie bei der Heimat. Ob die schön ist oder hässlich, spielt keine Rolle. Will einer Schönheit, kann er ja in Urlaub fahren, nach Italien oder Hawaii. Wir lieben unsere Heimat nicht, weil sie schön ist. Ich kannte während meines Studiums einen älteren Kommilitonen, der kam aus Essen. Wir unterhielten uns oft über unsere Kindheit. Beide waren wir überzeugt, er wie ich, dass wir die schönste Kindheit hatten, die sich denken lässt. Ich sagte: Stell dir doch nur unsere Berge vor! Die Wälder, den Alten Rhein, den Bodensee, den Föhn. Da lächelte er mitleidig. Wie langweilig, rief er aus. Ich bin aufgewachsen in einer vom Krieg zerstörten Stadt. Schön war die nicht, nur Trümmer. Aber spannend! Ein einziger Abenteuerspielplatz die Stadt! Und so ist es mit dem Dialekt. Wir lieben ihn, nicht weil er so viele Ausdrucksmöglichkeiten bietet, sondern obwohl er so wenig bietet. Ich kann im Dialekt singen, einen Roman schreiben kann ich nicht. Wenn ich mit Freunden über ernste Sachen diskutiere, über schwierige Sachen, dann verfallen wir automatisch ins Hochdeutsche. Nicht aus Hochmut, sondern weil unser Dialekt für Philosophie nicht geeignet ist. Aber fürs Singen ist er geeignet. Ohne Philosophie lässt sich leben, ohne Singen nicht.

Reden verhält sich zu Schreiben wie die Fichte zur Geige. Niemand würde sagen, die Fichte sei der Geige unterlegen oder umgekehrt. Aber jeder weiß, dass zumindest die Geigendecke in den meisten Fällen aus Fichtenholz besteht, das sehr sorgfältig behandelt werden muss, wenn das Instrument gut klingen soll. Die Fichte lässt die Geige nicht erahnen, die Geige umgekehrt die Fichte schon. Ich kann vom geschriebenen Wort auf das gesprochene schließen, umgekehrt nicht. Der Dialekt ist gesprochene Sprache. Wenn wir H.C. Artmanns "Med ana schwoazzn dintn" lesen, tun wir uns schwer, so schwer, als wären die Gedichte in einer Sprache geschrieben, die nicht die unsere ist. Und doch ist sie die unsere. Und doch nicht. Unsere geschriebene Sprache ist sie nicht. Wenn man diese Poesie nur still und für sich liest, öffnet sich ihre Schönheit nicht. Dialekt ist immer Sprechsprache. Oder Singsprache. Was das Gleiche ist.

Dialekt und die sogenannte Hochsprache haben weniger miteinander zu tun, als man glaubt. Ich erzähle Ihnen einen Vorarlberger Witz: Ein Ehepaar will in einer Autowaschstraße den Wagen waschen. Die Frau steigt aus und wartet auf der anderen Seite. Da sieht sie ihren Mann, wie er sich zwischen den Riesenbürsten ins Freie drängt. Sie fragt, was los sei. Er sagt: "I ha alls richtig gmacht. Do isch gschtanda: Gang heraus. Do bi i usgstiega." Wer keinen Vorarlberger Dialekt versteht, versteht den Witz nicht. Und wird ihn nicht verstehen, auch wenn er noch so eindringlich erklärt wird.

Ich vermute, in Wahrheit lässt sich eine Sprache gar nicht in eine andere übersetzen. Ich meine, im Kleinsten. Das ist auch nicht notwendig. Eine Sprache gibt der anderen Sprache genug zu verstehen, so dass vergleichende Assoziationen entstehen können, Ähnlichkeiten. Ähnlichkeiten bringen uns einem anderen näher als Gleichheit. Die Gleichheit, das demonstriert uns die Geschichte der letzten 250 Jahre seit der Französischen Revolution, erzeugt in ihrer letzten Konsequenz Leid und Unglück. Die Ähnlichkeit löscht nicht aus, die Gleichheit sehr wohl. In der Philosophie spricht man von der "Anerkennung der Differenz", diese sei nachgerade Voraussetzung für ein friedliches Miteinander. Nicht das Gleiche suchen, sondern den Unterschied. Man muss genau sein: Das Gleiche ist nicht das Gemeinsame, der Unterschied ist nicht unbedingt das Trennende.

Fast jeder in Österreich spricht mindestens zwei Sprachen - ich meine nicht Deutsch und Englisch oder Französisch oder Türkisch, ich meine, Deutsch und Dialekt. Und beide Sprachen sind eigene Sprachen. Weder der Dialekt noch das Hochdeutsche sind Fremdsprachen. Aber beide unterscheiden sich. Der Umgang mit Sprache, mit Sprachen, kann uns lehren, Differenzen nicht nur anzuerkennen, sondern als gewünscht, schön und heilsam zu begreifen.

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