Anna Baar

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Literatur

Anna Baar: "Babel"

Dieser Text entstand für Ö1 im Rahmen der Sendung "Literatur am Feiertag" am 26. Oktober 2022.

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Literatur am Feiertag | 26.10.2022

Du giltst so viele Menschen, wie du Sprachen sprichst, sagten die Alten zum Kind - und sprachen selbst nur die eine. Das Kind aber glaubte ihnen, und spielte fortan ein Versteckspiel, bei dem man zwar einschauen musste, aber niemanden suchte. Zwei Seelen hatten da in ihm Quartier bezogen, und es war überzeugt, nur ein Dritter zu sein, der sie befehligen sollte, und so, dass die eine schlief, während die andere wachte. Das ging wie beim Puppentheater: Der Spieler hatte für beide Figuren zu reden, für jede in ihrer Sprache, in der ihr eigenen Gestik, in ihrer Gemütsverfassung und mit verstellter Stimme. Dass er selbst währenddessen nicht in Erscheinung trat, kam ihm wohl gelegen. Er brauchte sich nicht zu fragen, wer und wie er war, oder, noch wichtiger, als wer er in den Augen anderer Leute erschiene, solange es um die Figur ging, die gerade am Wort war: in der Muttersprache oder in der des Vaters. Den Wechsel von einer zur anderen vollzog das Kind blitzschnell, wenn die Verwandten es drängten, ihr Reden zu übersetzen, wobei sich nordischer Ernst und südliche Ausdrucksfülle gefährlich nahekamen. Die explosive Vermischung ließ sich nur vermeiden, indem der Übersetzer dem Dahingesagten kühlende Umschweife einflocht, manches Wort entschärfte und manches gänzlich ausließ. So wurde das Kind zum Vermittler zwischen den beiden Welten, ohne sie allerdings annähernd zu ergründen. Die Stimmungen der Sprachen ließen sich nicht übertragen, nicht einmal die Begriffe. Neugier etwa kam nicht heran an das Wort Znatiželja. Wunsch und Gier konnten nicht eins sein, allenfalls gegenläufig. Auch wenn es einem gelänge, alles exakt zu benennen oder auch nur zu umschreiben, bliebe es nicht dasselbe.

Sowie das Kind heranwuchs, fiel es ihm immer schwerer, die Seelen sauber zu trennen. In entrückten Momenten ließ es die eine munter im Tonfall der anderen plappern. Das klang einmal zu gemessen, ein andermal zu schwülstig - jedenfalls unaufrichtig. So machte es sich daran, eine Sprache zu finden, die beide Temperamente möglichst in sich vereinte, ihre Gegensätze in sich in Einklang brächte, ohne dass es krachte, wenn sich Manieriertheit, Strenge und Inbrunst mischten.

Die Alten, so viel stand fest, hatten sich grob verrechnet: Der Vielsprachige blieb einer, ein Grenzgänger, unbeständig, zweiflerisch und friedlos. Was immer er von sich gab, es galt nur den Gleichgestimmten, ja oft nicht einmal denen. Vielleicht war die Sprachverwirrung ein universelles Schicksal. Jeder hatte sein Babel. Es brauchte dafür keineswegs grundverschiedene Sprachen. So konnte die Palatschinke genauso gut Plinse heißen oder ein Polster Kissen. Und wenn zwei zum Beispiel im Gleichschritt durch eine Stadt flanierten, mochte der eine behaupten, die Straße lang zu laufen, wiewohl der andere meinte, sie gingen im Schneckentempo. Hätten die beiden später bei einem Baum gerastet, ganz gleich, ob erschöpft vom Gehen oder ermattet vom Laufen, würde der erste Dritten womöglich davon berichten, dort gesessen zu sein, während der zweite erzählte, dort gesessen zu haben. Und nicht einmal das Wort Baum bliebe selbstverständlich, weder für die beiden in Haben und Sein Entzweiten noch für besagte Dritte, nur kleinster gemeinsamer Nenner für hundert verschiedene Arten in tausend Qualitäten. Dem Forstwirt legte das Wort andere Bilder nahe als dem gemeinen Obstdieb, dem sommerhitzegeplagten, dürstenden Schattensucher oder dem Dendrologen. Dem Tischler bedeutete Baum ohnehin nicht dasselbe, wie einem Maibaumkraxler, Umweltaktivisten oder Bonsaiexperten.

Es ist ein Kreuz mit der Sprache. Wo sie eint, entzweit sie. Während die einen sich mühen, anderen durch Übersetzung, simple Ausdrucksweise oder schlichte Schreibart möglichst nahezubringen, was sie für wichtig halten, nutzen andere sie, um unter sich zu bleiben, erfinden sich sogar Codes, die den Zusammenhalt stärken, zur Geheimhaltung dienen oder zum Ausschluss anderer. Was immer einer bezweckt, die Folgen sind unbestimmbar. Der Redner, Erzähler, Schreiber, ob Meister, ob Dilettant, bleibt machtlos gegen die Lesart, gegen Reizbarkeiten, Bedürfnisse und Geschmäcker, die schlimmstenfalls Großes verlästern oder Geringes adeln. Der Zuhörer oder Leser nimmt immer nur so viel auf, wie ihm in den Kram passt. Wie einst das Kind, das ich war, davon überzeugt, Frieden stiften zu können, indem es den Diskutanten die Worte im Mund verdrehte, sobald es gefordert war, etwas zu übersetzen.

Immer noch haust es bei mir, gleich einem Untermieter, der sich nicht abwimmeln lässt von der Gouvernante, die irgendwann bei uns einzog. Heute bin ich der Dritte, der zwischen zweien vermittelt. Das Kind besteht auf den eigenen, kindlichen Zauberworten, die, mögen sie seine Welt noch so schön singen machen, bei den Uneingeweihten geringen Anklang finden. Die Gouvernante ermahnt es, endlich normal zu reden. Aber das Kind lässt nicht locker; und zwinkert mir schelmisch zu, sooft ich mein Möglichstes tue, meinem Lektor aus Leipzig ein liebes Wort auszudeutschen - zum Beispiel das schöne Einschauen, für das er in seiner Sprache keine Entsprechung findet.

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