Ann Cotten

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Literatur

Ann Cotten: "Nicht nur mit Menschen verwandt"

Dieser Text entstand für Ö1 im Rahmen der Sendung "Literatur am Feiertag" am 26. Oktober 2022.

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Literatur am Feiertag | 26.10.2022

Die Vorstellung, dass man irgendwohin gehöre, ist ja ein Gedanke, der vielleicht nur mit Schmerz verbunden aufkommt: entweder man kann nicht weg, oder man kann nicht hin, stirbt in der Ferne. Oft geschah Migration ja auch im Rahmen der professionellen Ausbildung oder der Heirat, wie eine Passage, eine Entwöhnung zweiter Ordnung. In manchen Kulturen zieht z.B. der Mann in die Familie der Frau, in patrilinearen oft die Frau zur Familie des Mannes. Auch wenn das im selben Dorf stattfindet, hat eine Perspektivenverschiebung stattgefunden. Dier Fremde (1) hat einen Mangel aufzuholen: an Ortskenntnis, am etablierten Netzwerk gegenseitiger Hilfe. Andererseits bringt sier die geistige Freiheit und Beweglichkeit mit, mehr als eine Perspektive zu kennen. Dies wird mal als Bereicherung, mal als Bedrohung wahrgenommen, ebenso wie die durch den Ortswechsel ermöglichte tabula rasa der Beziehungen.

Wenn behauptet wird, Gesellschaften hätten von Natur aus Widerstände gegen "das Fremde", so ist das Unsinn. Sie stehen im Austausch damit, sie "wissen" genau - im evolutionären Sinn - dass sie Input und Reflexion brauchen, und, dass es kein "Eigenes" gibt, das man gegen "das Fremde" kontrastieren könnte, da immer schon Austausch herrschte. Das "Eigene" und "Fremde" sind konzeptuelle Konstruktionen, die aus verschiedenen Agenden heraus in der Zeit der Romantik stark gemacht werden. Die frühsten Spuren von Menschen in Mitteleuropa stammen von vor 400 000 Jahren und sind von - Überraschung - Migrantennni. Und wer immer "wir" jetzt meinen zu sein, alle stammen wir aus Afrika, - wenn man der Tradition folgt, Identität an Genealogien, evolutionäre Entwicklungsstränge zu binden. Wenn nicht, dann wird es aus meiner Sicht interessanter. An die Stelle der sogenannten Blutsverwandtschaft oder genealogischen Abstammung treten synchrone Netzwerke von Beziehungen. Nimmt man faktische Interaktionen als Maß von Nähe, wird das Bild realistischer, wenn auch ein bisschen schockierend: Die faktisch bestehenden Interaktionen mit dem Zentrallager von Internetversandhandelsriesen, mit den Minen für die seltenen Erden, aus denen mein Smartphone besteht, mit der nächsten Internetrelaisstation und mit dierm Mitarbeiterin, dier dort still eine Hackernnnieattacke blockiert; mit Milben, Mikroben, Staub, Pollen in meiner Nase; mit den Mitarbeiternnnie der Putzmittelfabrik, die Aufkleber auf Flaschen klebten, die ich gedankenverloren abkletzle, mit dem Satellit, das meine Chatnachrichten, in denen eine ewig erfrischende Gegenwärtigkeit und Nähe zu herrschen scheint, an einen anderen Kontinent überbringt; mit den robusten Nahten meiner Schuhe, die Spuren kundiger, mir unbekannter Finger tragen, mit den Menschen, die das Frauenwahlrecht erkämpft haben, und mit Ada Lovelace und den anderen Mathematikernnnie, die die Grundlagen für Computer, Internet und noch tausende Funktionen geschaffen haben, die jetzt meinen Alltag prägen - all diese faktischen Beziehungen überholen in Punkto Relevanz mühelos die Mutter-Kind-Beziehung, die Parteizugehörigkeit, die Ehe und andere Ko-Abhängigkeiten, die traditionell als identitätsbestimmend angesehen werden. Weil wir in einer strukturierten Gesellschaft leben, in einer Matrix - eben sentimentalisch nach den Müttern benannt, die natürlich immer noch vor allem in entscheidenden Anfangsphasen wichtig und extrem prägend sind.

Man könnte weiters das Verhalten als Abdruck der Laufumgebung (um ein Wort von Oswald Wiener zu benutzen) lesen wie Gene und merken, dass man mit dem Smartphone-Interface - folglich mit koreanischen Designernnnie, UX-Designernnnie aus aller Welt - näher verwandt als mit anderen Menschen wie etwa den Wohnungsnachbarn oder den eigenen Eltern oder Kindern. Das ist kein provokativer Scherz, sondern eine narrative Korrektur, die Hoffnung geben kann. Die faktisch gepflegten Netzwerke ernst zu nehmen wäre ein wichtiger Move, um beim Denken in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bleiben, und auch offen für die Eindrücke neuer Situationen zu sein. Leider denken wir Erklärung sehr vergangenheitslastig und stopfen die Gegenwart mit Gewalt in Narrativen, die überhaupt nicht mehr passen. Das Einordnen von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe ist ein besonders plakatives Beispiel für dieses Verhalten. Das machen wir, und dann geben wir ungern zu, zu irren. So geraten wir in die peinliche Situation, sich in nostalgische Lügengebäude zu verschanzen, wo man sich gegenseitig in Augenauswischereien, Schuldzuschiebediskursen und anderem unnützen Gerede bestärkt, gerade indem man einander in Form von Debatten, Meinungsverschiedenheiten, Seitenhieben ernst nimmt, Aussenstehende indessen ignoriert - und so sehen wir Österreichernnie für Zugewanderte immer wunderlicher, immer mehr wie merkwürdige Fossile aus.

Neulich sprach ich mit einer japanischen Bekannten, wir besprachen den Begriff "Identität". Im Japanischen ist es ein Fremdwort, in der gegenwärtig für Fremdwörter und andere Situationen, wo eine Abbildung der Lautlichkeit in den Vordergrund tritt, reservierten Katakana-Schrift. Das wirft erst einmal den Blick darauf, dass das Wort im Deutschen auch als Fremdwort angesehen werden könnte. Wobei man draufkommt, dass das ganze Deutsche komplett von anderen Sprachen durchwachsen ist - und das Englische erst recht. Das Japanische auch. Wo wir lateinisch- und griechischstämmige Wörter wie Identität haben, gibt es im Japanischen den aus dem Chinesischen stammenden Teil. Nicht nur die Kanji-Schrift, in der jahrhundertelangen Nachbarbeziehung, in der regelmäßig Delegationen zum Import neuester Theorie nach China zum Studieren geschickt wurden, wurde immer wieder Vokabular eingeführt, das in seiner intellektuellen Verwurzeltheit in vielen Punkten mit der Rolle von Griechisch und Latein in Europa vergleichbar ist. Seit der Öffnung des Landes in der Meiji-Zeit beinhaltet die japanische Sprache eine wachsende Menge an modernen Fremdwörtern, die in Katakana geschrieben werden, so auch アイデンティティー (sprich: eidenchichî). Ich saß mit Hibino Saki in Berlin Neukölln in einer todschicken neuen japanischen Bar, und sie schilderte mir, dass das Wort アイデンティティー Bilder heraufbeschwört von etwas, was wie zwischen den Metallteilen einer Rüstung hervorsickert. Ich fand das sehr interessant, nicht nur wegen Wilhelm Reichs Charakterpanzer, sondern auch, weil in meiner auch durch das Englische geprägten Vorstellung ganz im Gegenteil Identity, Identität etwas ist, was man verpflichtet wird zu haben, wie eine ID-Karte. Identität ist eine Fassade, die ich schnell aufbauen können muss, wenn es von mir verlangt wird. Das macht mich immer nachdenklich, manchmal bin ich fast traumatisiert davon, wie ein zufällig ausgewählter Teil meiner Biographie sofort im Gegenüber zu einem Fertigteilbild expandiert.

Wenn jemand bei der ersten Begegnung fragt, woher kommst du, oder was machst du, muss ich nicht selten ausholen oder ausweichen: "Eine lange Geschichte" - "kompliziert..." Es gibt Leute, die auf solche Fragen verärgert reagieren, was ich verstehe, aber ich bin trotzdem froh, dass gefragt wird: Zu oft ist in Wien, der sich eh schon als Melange-Identität verstehenden Stadt, ein völlig abgestumpftes Interesse für die fernere Welt zu spüren: "Du bist Ausländerni? Macht nichts!" - Das ist Integration wie das Aushändigen von Gefängniskleidung, eine Umarmung wie eine Auslöschung.

(1) Polnisches Gendering: Alle für alle Geschlechter benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.

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