PRIVAT
Ö1 Kunstgeschichten
Tibor Bárci über eine Skulptur von Ilse Schrottenbach
Die Wiener Bildhauerin Ilse Schrottenbach wäre heuer 60 Jahre alt geworden. Tibor Bárci beschreibt in "Der Wal" nicht nur eine von Ilse Schrottenbachs Steinskulpturen, sondern erzählt auch die Geschichte einer Liebe. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
3. November 2022, 10:22
Es ist ein gestrandeter Wal. Ermattet hat er einen Strand erreicht, den er nicht gesucht hatte, aber jetzt nicht wieder verlassen kann. Auf seiner Oberfläche bewegen sich Wolken von Sternenstaub. Sie sind ein Teil der Milchstraße. Sie sind kosmische Galaxien, die kollidieren und sich wieder voneinander lösen. Spiralhafte Nebel verfestigen sich zu neuen Formen und verschwinden wieder. Sie erinnern an Magma, das aus dem Erdkern nach oben drängt.
Neue Texte | 06 11 2022 - "Der Wal" von Tibor Bárci. Es liest Michael Dangl.
PRIVAT
Tibor Bárci ist Jahrgang 1950 und floh mit seiner Familie 1956 aus Budapest nach Wien, wo er Werbetexter und Agenturgründer wurde und von 2002 bis 2008 als Präsident dem Creativ Club Austria vorstand. Zahlreiche seiner Arbeiten errangen nationale und internationale Auszeichnungen. Tibor Bárci lebt in Wien und in Salzburg.
Es ist ein Stein mit knapp einem Meter Länge und rund 90 Kilogramm Gewicht. Er schwebt. Nein, er schwebt nicht. Er ruht auf zwei Punkten, die ihn im labilen Gleichgewicht halten und wenige Zentimeter vom rau gezimmerten Schiffsboden abheben.
Doch von alledem weiß ich noch nichts, als ich das erste Mal das Atelier der Künstlerin besuche. Selbst von ihr weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch sehr wenig.
"In meiner Kunst interessiere ich mich für das Ungewisse, das Veränderliche und für die Endlichkeit", sagt sie. Die Steine, an denen sie arbeitet, wirken auf mich: gewiss, unveränderlich und unendlich. Es gibt Menschen, die solche Widersprüche nicht ertragen. Mich ziehen sie an.
Unsere erste Begegnung ist erst wenige Tage her. Wir hatten uns im Café Prückel verabredet, es war der 8. Dezember 2005, Mariä Empfängnis. Auch für den Wiener Handel ist dieser Tag ein Fest.
PRIVAT
Ilse Schrottenbach wurde 1962 in Wien geboren. Sie absolvierte ein Werkstattstudium für Bildhauerei bei Markus Heinsdorff in Rom und München und hatte ihr Atelier in der Münchner "Werkstatt- und Ateliergemeinschaft Praterinsel". Nach ihrer Rückkehr nach Österreich wurde sie auf Empfehlung von Karl Prantl und Makoto Fujiwara "Artist in Residence" im norwegischen Larvik. Seit 2012 war sie Associate Member der Royal British Society of Sculptors. Ilse Schrottenbach starb 2019 in Wien.
Michael Dangl
Michael Dangl, geboren 1968 in Salzburg, ist Ensemblemitglied am Theater in der Josefstadt und bekannt aus Fernsehserien und Radioproduktionen. Seine markante Stimme ist dem Ö1 Publikum seit vielen Jahren vertraut, und auch als Autor von Prosa und Hörspielen ist der Schauspieler dem Kultursender verbunden.
Es war unser erstes Rendezvous. Ich hatte einen Tisch weiter hinten im Hauptflügel des Café Prückel gefunden und rund um mich war der Raum schon dicht gedrängt. Es häuften sich die Einkaufstaschen unter und die Mehlspeisen auf den Tischen. Ich kannte sie nur von einem Foto und es war ungewiss, ob ich sie auch gleich erkennen würde. Eine Partnerbörse hatte uns zusammengebracht. Wir waren in unseren Profilen auf dasselbe Wort aufmerksam geworden: in der Rubrik Musikgeschmack fand sich neben Genres wie Klassik, Oper, Rock und HipHop auch Klezmer.
Als eine zierliche Person in einem bodenlangen Mantel das Café betrat wusste ich sofort, dass sie es ist. Auch ich war leicht zu erkennen: der einzige Mann, der allein am hinteren Ende des Cafés saß und auf die Eingangstüre starrte.
Schon bald drehte sich unser Gespräch um die Frage, wie wir beide hierhergekommen sind. Um unsere Lebenswege. Es sind viele Zufälle notwendig, damit sich die Pfade zweier Menschen kreuzen. Die Geschichten unserer Familien durch die beiden europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind erstaunlich. Wir sind die Nachkommen jener Wenigen, die zwei Weltuntergänge des letzten Jahrhunderts überlebt haben. Doch wir saßen in einem dezemberfrohen Café des Jahres 2005. Das Chaos schien gebannt und die Zukunft hell zu sein.
Sie sei Bildhauerin, sagte sie. Steinbildhauerin. Ich sah ihre zarte Gestalt und die feinen Hände und konnte mir das schwer vorstellen. Dann dachte ich an filigrane Steine, die man als Schmuck trägt oder in eine Vitrine stellt. Sie spürte meine tastende Ratlosigkeit und erwartete eine Frage. Aber ich fragte nicht weiter. Draußen wurde es rasch dunkel und wir verabredeten ein baldiges zweites Treffen in ihrem Atelier.
Drei Tage danach, an einem wolkigen Dezembernachmittag, besuche ich sie. Ilses Atelier ist ein Wohnatelier. Von den fünf großen Räumen bewohnt sie zwei, in den anderen stehen Arbeitsplatten auf rohen Böcken, Staffeleien, Stahlteile und Drähte. Werkzeug überall. Hämmer aus Eisen und Stahl und Meißel in diversen Ausführungen. "Stahlfäustel, Holzknüpfel, Riffler, Zahneisen und Zweispitz", sagt sie. Ich habe so etwas noch nie in der Hand gehabt und kannte nicht einmal die korrekten Bezeichnungen dafür. Überall liegen oder stehen grobe oder glatte oder halb raue halb glatte Steine. Ich befinde mich im Unbekannten.
Einige Steine stehen auf Stahlpodesten, andere sind einfach auf den Holzriemenboden gelegt. Ein Schiffsboden, denke ich und im selben Moment glaube ich zu schwanken. Ich versuche das Schwanken auszugleichen und stehe doch nur mit steifen Beinen im Raum. Keine Spur von kleinen Steinen, kaum einer, den ich ohne Weiteres bewegen oder gar heben könnte. Wo bin ich hier gelandet?
Ilse lässt ihr Universum wirken. Es wird still. Um die Stille zu beenden und meine Ahnungslosigkeit zu überspielen suche ich nach klugen Fragen. Doch mir fallen nur vollkommen banale ein. Wieviel Kilo wiegt dieser Stein? Wie lange arbeitest du an so einem wie diesem hier? Wann weißt du, dass er fertig ist? Diese Frage findet Ilse dann doch interessant.
"Es hat lange gedauert", sagt sie, "bis dieser Stein überhaupt hier gelandet ist. Viele Steine entstehen in Jahrmillionen durch Metamorphosen aller Art. Sie steigen unter Druck und Hitze aus tiefen Erdschichten auf und verwandeln sich dabei. Mit meinem Eingriff habe ich den Stein nochmals minimal verändert. Das sind nur Bruchteile von Sekunden in seiner Lebensgeschichte. Doch in diesem Augenblick ist er, für mich, fertig. Wann die Metamorphosen ihr Ende erreicht haben werden, das erfahren wir beide nicht mehr. Schau dir diesen hier an, er hat ungefähr 650 Millionen Jahre gebraucht, um hierher zu kommen."
Sie zeigt auf einen dunklen und zugleich bläulich schimmernden Stein, der mit jeder kleinen Veränderung meines Blicks winzige Blitze wirft. "Ein Larvikit, er kommt aus Norwegen, aus der Umgebung von Larvik. Du hast dieses Material sicher schon gesehen. Findest du auf den Außenfassaden von noblen Gebäuden oder Geschäften in der City. Er wird auch Labradorit genannt. Greif ihn ruhig an."
Er fühlt sich kalt an. Die glitzernden Blitze scheinen aus Dutzenden Augen in der Tiefe des Steins zu kommen. Ein anderer, ein blendend weißer Marmor, macht meine tastenden Finger vollkommen trocken. Wieder ein anderer Stein erwärmt sich, sobald ich die Hand auch nur kurz auf ihm ruhen lasse.
Die Metamorphose der Steine erinnert mich an die Metamorphosen in der Mythologie. Häufig wird von der Verwandlung als Versteinerung berichtet. Das Gegenteil geschieht mit mir. Meine anfängliche Fremdheit und Steifheit beginnen sich jetzt ins Gegenteil zu verwandeln. Ich werde warm.
Schon beim ersten Rundgang durch das Atelier ist mir ein länglicher Stein von rund einem Meter Länge aufgefallen. Er liegt vor dem niedrigen japanischen Bett im Schlafzimmer auf dem Schiffsboden. Ein an der Küste gestrandeter Wal, denke ich. Doch da ist die Bewegung auf seiner Oberfläche. Nebel drehen sich und bilden Spiralen. Graue und weiße Wolken treiben, verschwinden und erscheinen wieder, vermischen und trennen sich. Jede Bewegung, jede Gestalt verwandelt sich sofort in eine andere. Das alles scheint sich gleichzeitig auf dem Körper und im Kopf dieses versteinerten Lebewesens abzuspielen, das ermattet schon in Ufernähe der Tatamimatten liegt.
Es ist draußen bereits dunkel geworden und einen der Tische hat Ilse rasch in eine kleine Festtafel umfunktioniert: gebratener Fisch, Rucola und Wein. Wir setzen uns zum Essen. Durch die weit offenen Doppeltüren zum Schlafzimmer sehe ich den massiven Stein aus einer anderen Perspektive. Er ruht auf nur zwei kleinen Punkten an seinen entgegengesetzten Enden, bäumt sich im Bogen gegen seine eigene Schwere auf, als wolle er die Schwerkraft überwinden. Das Lebewesen ist nur scheinbar ermattet, es ist voller dunkler und heller Energie.
Unser Gespräch nimmt beflügelt von Wein und Speisen eine Wendung. Wir tauchen tiefer in unsere Lebensgeschichten ein. Zugleich lässt der Stein meine Gedanken nicht los und mein Blick wandert immer wieder Richtung Schlafzimmer. Ilse bemerkt das und ich werde verlegen. "Ich habe nur den Stein betrachtet", sage ich erklärend. "Ich weiß", sie schmunzelt.
Draußen ist es finster geworden und es beginnt heftig zu schneien. Die Flocken fallen dicht und beginnen tanzend die dunklen Straßen aufzuhellen.
Meine innere Wärme weckt auch meinen Appetit. Der Fisch und der Rucola stillen meinen Hunger, doch ich will mehr. Ich bin auch begierig auf das, was Ilse über ihr Leben und die Steine zu erzählen hat, verschlinge jedes Wort und auch das ist mir zu wenig. Ich will sie. Es ist, als würde ihr Blick die Oberfläche meiner Konversation und meiner naiven Fragen durchstoßen. Diese zarte Frau hat die Kraft, mit Stahl und Stein umzugehen. Und ich gerate in den Sog ihrer Anziehungskraft.
Wir sprechen über Musik und Literatur. Wie die Spielkunst von Glenn Gould den Erzähler in Thomas Bernhards Roman "Der Untergeher" überwältigt. Der Weg von Glenn Gould und Johann Sebastian Bach zu Nina Simone ist kurz. Ilse liebt Nina Simone und hat viele ihrer Alben. Es war Bachs Musik, die Nina Simones Wunsch weckte, Konzertpianistin zu werden. Bei "My Baby Just Cares For Me" machen wir unsere ersten Tanzschritte. Irgendwann stolpern wir über den gestrandeten Wal und landen sanft auf den Tatami-Matten. Oder war es der Wal, der uns an Land spülte? Ich weiß es heute nicht mehr.
Stunden später hatte ein weicher Wind die schweren Schneeflocken in Tauwasserströme verwandelt. Die Straßenbeleuchtung baumelte und selbst die vorbeifahrende Straßenbahn schien im windbewegten Licht zu schwanken. Unter dem Scheibenwischer meines Autos fand ich ein sorgsam ausgefülltes schneenasses Strafmandat.
Schon im Jahr darauf sehen Ilse und ich in Norwegen die gestrandeten Wale aus Stein. Sie liegen halb im Meer und wir können über ihre sanft gerundeten Buckel gehen. Wir befinden uns südlich der norwegischen Stadt Larvik an der Skagerrakküste. Hier begegnet man überall diesen urzeitlichen Felsformationen. Wasser, Wind und Sturm haben das Gestein in Hunderttausenden Jahren abgeschliffen und gerundet.
Wir besuchen das Gräberfeld Mølen. Als wir uns der Küste nähern, erinnern die gewaltigen Silhouetten der Gräber von Weitem wiederum an Walrücken. Beim Näherkommen erkennen wir, dass die jahrtausendealten Grabhügel aus aufeinandergetürmten Steinen bestehen.
Nicht weit davon entfernt steht das Stavernsodden-Leuchtfeuer. Ein Leuchtturm, der den Schiffen die Fahrtrinne zur Stadt Larvik signalisiert. Auf dem Weg dorthin spielen wir im Auto einen unserer Lieblingssongs, Bob Dylans "All Along The Watchtower". Nur Jimi Hendrix ist es gelungen, mit seiner Version das Original zu übertreffen, auch Dylan selbst war dieser Meinung. In Hendrix' Gitarrensolo hört man einen Nachhall vom Ursprung des Universums und der Galaxien, ein Drehen und Wirbeln von Kräften und Elementen, die steigen und fallen, sich trennen und vereinen in konstanter Verwandlung. Doch in der Mitte des Textes ruht der Song auf zwei winzigen Elementen: den Worten "You & I". Wir schalten den Track auf Dauerschleife und singen mit:
"There are many here among us
Who feel that life is but a joke
But you and I, we've been through that
And this is not our fate
So let us stop talkin' falsely now
The hour's getting late …"