Iannis Xenakis, 1970

FRIENDS OF XENAKIS/MICHELE DANIEL

Neue Musik auf der Couch

Iannis Xenakis: "Tetras"

Zikaden, Regen, Hagel, politische Menschenmassen: Die Inspirationsquellen für den 1922 in eine griechische Familie geborenen Komponisten Iannis Xenakis sind vielfältiger Natur. Als deren Grundlage nennt Iannis Xenakis die sogenannten stochastischen Gesetze, wobei Stochastik jener Bereich der Mathematik ist, der sich mit Wahrscheinlichkeit und Statistik beschäftigt.

Sein erstes Streichquartett "ST/4-1 080262" trägt den Hinweis auf diesen Bereich der Mathematik im Titel: ST steht für Stochastik, 4-1 bedeutet, dass dies das erste Werk für vier Instrumente ist und 080262 ist eine Datumsangabe und bezeichnet jenen Tag, an dem dieses Werk von einem bestimmten Computerprogramm errechnet wurde: den 8. Februar 1962.

In seinem Buch "Musiques formelles" (auf Englisch: "Formalized Music") geht Xenakis näher auf die Verbindung seiner Musik mit den bereits erwähnten außermusikalischen Phänomenen ein: "Aber auch andere Wege führten zu derselben stochastischen Wegkreuzung – zunächst einmal natürliche Ereignisse wie die Kollision von Hagel oder Regen auf harten Oberflächen, oder der Gesang von Zikaden in einem sommerlichen Feld. Diese akustischen Ereignisse bestehen aus Tausenden von isolierten Geräuschen; diese Masse an Geräuschen, als Ganzes betrachtet, sind ein neues akustisches Ereignis." Auch die existentielle Erfahrung einer eskalierenden Demonstration beschreibt Xenakis und stellt fest: "Nach dieser akustischen und visuellen Hölle folgt eine explodierende Stille, voll von Verzweiflung, Tod und Staub."

"Tetras", das zweite Streichquartett von Iannis Xenakis, kann grob in neun Abschnitte gegliedert werden, wobei die Abschnitte 1-3 sowie der letzte Abschnitt 9 im Gegensatz zu den mittleren Teilen vor allem von unbestimmten Tonhöhen geprägt sind. In Teil 1 und 3 sowie im abschließenden 9. Abschnitt dominieren Glissandi, also jene Spieltechnik, derer sich Xenakis häufig beim Komponieren für Streichinstrumente bedient. Es entsteht durch diese Gliederung insgesamt eine mit den Variablen A-B-A' beschreibbare dreiteilige Liedform, wobei auch die ersten drei Abschnitte isoliert betrachtet als eine solche bezeichnet werden können: Abschnitte 1 und 3 sind in ihrem ständigen Dahingleiten als Glissando-Teile zu nennen, Abschnitt 2 als Geräuschteil.

Nicht-oktavierende Skalen oder polyrhythmische Verklanglichungen vielstimmiger Strukturen: konträr zu den äußeren Abschnitten ist der Mittelteil primär vom Spiel mit bestimmten Tonhöhen geprägt. Es entsteht eine äußerst virtuose Klanglandschaft, die vielfältige Assoziationsräume eröffnet und in der sich immer wieder die von Xenakis beschriebenen Inspirationsquellen wiedererkennen lassen.

Xenakis betrachtet ein Streichquartett definitiv nicht wie ein Gespräch von vier vernünftigen Leuten, so wie es Goethe bekannterweise in einem Brief an Zelter tut. Auch den oft bemühten Vergleich von Musik und Sprache lehnt Xenakis ab: "Musik ist keine Sprache. Ein musikalisches Werk ist wie eine komplexe Gesteinsformation mit eingravierten Rillen und Mustern, die Menschen auf tausend verschiedene Arten entziffern können."

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