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Betrifft: Geschichte | Zeit-Ton
Der ungekrönte König
Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen und die Ukraine als Sujet einer Musiktheaterproduktion aus Charkiw.
27. April 2023, 12:00
Sendungen
Betrifft: Geschichte | 20.-24.3.23, 17:55 Uhr - Wilhelm Franz von Lothringen und die Ukraine
Zeit-Ton | 27.3.23, 23:03 Uhr - Vyshyvanyi. King of Ukraine
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Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und Putins Versuch der Auslöschung ukrainischer Identität durch Zerstörung und Propaganda wächst das Interesse an historischen Persönlichkeiten, die mit der Geschichte des Landes eng verbunden sind. Zu diesen zählt der österreichische Erzherzog Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen (1895-1948), in der Ukraine als Vasyl Vyshyvanyi bekannt, der eine bedeutende Rolle in der frühen Unabhängigkeitsbewegung hatte.
Wilhelm Habsburg wurde 1895 in Österreich-Ungarn geboren und wird bis heute in der Ukraine verehrt. Während des Ersten Weltkriegs galt er als habsburgischer Thronanwärter eines ukrainischen "Satellitenstaates" und setzte sich für die Autonomie Ostgaliziens und der von den Sowjets kontrollierten Gebiete ein.
"Ukrainer aller Länder, vereinigt euch!"
Er, der im Ersten Weltkrieg als k. u. k. Offizier an der Ostfront eingesetzt war, sprach die ukrainische Landessprache, befasste sich mit der Kultur des Landes und war der Bevölkerung und ihren Traditionen zugetan. Unter seiner Uniform trug er, so die Darstellung, ein traditionelles, besticktes Hemd, weshalb er von der Bevölkerung Vasyl Vyshyvanyi - Wilhelm der Bestickte - genannt wurde.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik ging er nach München, später nach Wien. Sein Plan, eine ukrainische Befreiungsarmee aufzubauen, scheiterte jedoch. 1921 gründete er eine eigene Zeitung, der Zeitungskopf zeigte einen ukrainischen Bauern mit Hammer und Sichel, die Schlagzeile lautete "Ukrainer aller Länder, vereinigt euch!": eine Anspielung auf das von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste "Kommunistische Manifest".
Spion für Großbritannien & Frankreich
Wilhelm träumte offenbar von einer "linksgerichteten Monarchie", die einer selbstständigen Ukraine mehr Stabilität geben könne als eine Republik. Die fortwährenden Bemühungen um eine unabhängige Ukraine brachten Habsburg zeitweise auch in die Nähe der Nationalsozialisten, gegen die er schließlich als Spion für Großbritannien und Frankreich tätig war. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Wilhelm Habsburg in sowjetische Gefangenschaft, wo er im Jahr 1948 verstarb.
Der Ukraine-Spezialist und Historiker Timothy Snyder hat diesem kaum bekannten Habsburger ein Buch gewidmet: "Der König der Ukraine". Üppig und spannend breitet er darin das schillernde Leben von Wilhelm von Habsburg aus. Dieser Erzherzog aus der Spätzeit der Habsburger wählte die Ukraine als Land seiner Sehnsucht - gegen den Willen seines Vaters, des polenfreundlichen Karl Stephan. Es gab tatsächlich Pläne, Wilhelm zum König der Ukraine zu machen. Doch er war kein politischer Stratege, den bisexuellen Bonvivant verband eher eine nostalgisch-romantische Beziehung mit diesem Land.
Oper über den "König der Ukraine"
"Vyshyvanyi. King of Ukraine" - diese faszinierende Biografie sollte jüngst brennende Aktualität erfahren: Im Oktober 2021 fand im postmodernen Opernhaus von Charkiw die Uraufführung von "Vyshyvanyi. King of Ukraine" statt, einem zeitgenössischen Musiktheaterwerk rund um Wilhelm als Hauptfigur. Mit der Musik wurde Alla Zagaykevych beauftragt, die Doyenne der ukrainischen Komponist:innen.
Die Großproduktion war von Anfang an als kulturpolitisches Statement konzipiert, als Grundstein für ein zeitgemäßes ukrainisches Opernschaffen, musikalisch-stilistisch auf der Höhe der Zeit, mit großem Orchester plus elektronischer Klangspur. Das Libretto dazu schrieb Suhrkamp-Autor Serhij Zhadan, die Produktion lag in den Händen der in Österreich lebenden Kulturmanagerin Oleksandra Saenko. Wilhelm war wegen seines Einsatzes für die Ukraine eine logische Wahl für ein historisches Opernsujet.
Nach einer düsteren Ouvertüre beginnt die Geschichte mit Wilhelms Ende: Er wird vom KGB gefoltert, dann erfolgt die Rückblende ins Wien der Jahrhundertwende - die Geschichte nimmt ihren Lauf. Niemand konnte erahnen, dass Wilhelms Eintreten für einen ukrainischen Staat noch größere Symbolkraft erhalten würde: Fünf Monate nach der Uraufführung von Zagaykevychs Wilhelm-Oper zerstörte eine russische Rakete das Opernhaus in Charkiw. Wenig später flüchtete ein Teil des Opernensembles in die Slowakei. Ö1 und "Zeit-Ton" konnten sich die Erlaubnis für eine Teilwiedergabe des Uraufführungsaufnahme sichern ...
Service
Soundcloud - Alla Zagaykevych
Timothy Snyder
Gestaltung
- Robert Weichinger
- Rainer Elstner