Steve Reich

PICTUREDESK.COM/EPA/JAVIER LIZON

Neue Musik auf der Couch

Steve Reich: "Different Trains"

Sprachsamples von insgesamt fünf Personen, Zughupen, Sirenen, bis zu vier Streichquartette gleichzeitig: "Different Trains" für Streichquartett und Tonband von Steve Reich stellt eine enorme Erweiterung der traditionellen Gattungskonvention des Streichquartetts dar. Als Ausgangsbasis dienen kurze Sprachsegmente, die in einen musikalischen Satz eingebettet sind.

Da ist einmal Virginia, Reichs ehemalige Gouvernante, die den jungen Steve auf den langen Zugsfahrten zwischen New York und Los Angeles begleitete, wo Reichs getrennte Elternteile lebten. Ebenfalls eine Erinnerung an diese Zugsfahrten ist die Stimme von Mr. Davis, ein ehemaliger Schaffner. Sprachaufnahmen dieser beiden Personen sind im ersten Satz, betitelt mit "America, before the war" zu hören. Diese Zugsfahrten waren die Ausgangsinspiration für die Komposition von "Different Trains"; in einer Einführung, der Partitur vorangestellt, schreibt Steve Reich:

Erinnerungen an meine Kindheit inspirierten mich

Thomas Wally analysiert Steve Reich

"Erinnerungen an meine Kindheit inspirierten mich zu 'Different Trains'. Als ich ein Jahr alt war, trennten sich meine Eltern. Meine Mutter zog nach Los Angeles, mein Vater blieb in New York. Da sie sich auf ein gemeinsames Sorgerecht geeinigt hatten, reiste ich von 1939 bis 1942 in Begleitung meiner Gouvernante häufig mit der Bahn zwischen New York und Los Angeles hin und her. Obwohl ich diese Reisen als aufregend und romantisch empfand, wurde mir natürlich später klar, dass ich mich als Jude in Europa zu der Zeit in Zügen ganz anderer Art befunden hätte. Diese Erkenntnis bewegte mich dazu, ein Werk zu komponieren, das beide Welten genau widerspiegeln würde."

Im zweiten Satz, "Europe, during the war", sind Sprachsamples von Rahel, Rachella und Paul zu hören. Drei Holocaust-Überlebende, deren persönliche Erinnerungen ebenfalls als kurze Sprachsegmente das Klangbild prägen: "They tattooed a number on our arm" ist eine solche Aussage, oder "Black Crows invaded our country" - den Inhalten entsprechend ist dieser zweite Satz auch musikalisch deutlich düsterer als der erste Satz. Im dritten Satz, "After the war", sind beide Welten vereint, also sowohl die Sprachsegmente, die Reichs Zugsfahrten in Amerika evozieren als auch jene, die Erinnerungen an den Holocaust enthalten.

Bei einer live-Aufführung müssen nun die Sprachsamples, die Zuggeräusche (Zughupen) und die voraufgenommenen Streichquartette zusammen mit dem live-Quartett zu einem sinnvollen Gesamten zusammengefügt werden. Das verstärkte live-Quartett spielt zur Zuspielung, welche von einer Stereo-CD kommt, dazu, allerdings ohne Kopfhörer und somit auch ohne Click-Track: Dies ist von Reich selbst so vorgeschrieben.

Das durch die Streicher erzeugte Klangbild ist einerseits geprägt von repetitiven Mustern, andererseits werden immer wieder voraufgenommene Klänge - Sprachsamples, Zughupen - durch manche Streichinstrumente gedoppelt. Die Transkription der Sprachsegmente und Zughupen führt zu unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und Tonarten: Die Musik ist dadurch in viele kürzere Abschnitte gegliedert, welche jeweils von einer bestimmten (Jazz)-Harmonie, die durch kleinteilige Repetitionen in einem bestimmten Tempo zum Klingen gebracht wird, geprägt sind.

Text: Thomas Wally

Übersicht