Buch des Monats

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Juni 2023

János Székely, "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann"

Nach gut 70 Jahren liegt der Roman von János Székely in Buchform vor. Das kluge, weitsichtige und unterhaltsame Werk ist das Ö1 Buch des Monats.

Im Jänner 2022 fand der Amerikaner Tony Kahn am Dachboden seines Hauses ein Manuskript: Dünnes Durchschlagpapier, 710 Seiten stark, verfasst vom ungarischen Autor János Székely. Kahn, der als Kind mit Székelys Tochter befreundet, war, ruft die mittlerweile fast Achtzigjährige in der Schweiz an. So endete die verschlungene Reise eines Romanmanuskripts, die vor siebzig Jahren höchstwahrscheinlich in Mexiko begann. Denn Székely hatte seine Heimat nach dem Ersten Weltkrieg verlassen, als sich dort das autoritäre Horthy-Regime etablierte. Er machte Karriere als Drehbuchautor in Berlin und wanderte 1938 in die USA aus. 1940 erhielt er einen Oscar, wich in der McCarthy-Zeit nach Mexiko aus und zog weiter nach Ost-Berlin, wo er 1958 starb.

Und so liegt dieser Roman, gut siebzig Jahre nach seiner Entstehung, jetzt in Buchform vor, "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann", so der Titel der deutschen Übersetzung, ist tatsächlich ein literarischer Schatz. Der Roman spielt in Ungarn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Noch steht das Land an der Seite des Deutschen Reiches, aber die Alliierten sind bereits in der Normandie gelandet.

Dreiecksverhältnis in der Endzeit

Székely begibt sich in seinem Roman mitten in die ideologischen Auseinandersetzungen, die sich beim Zusammenbruch einer Gesellschaft noch einmal zuspitzen. Er zeichnet in vielen Dialogen, klug, geschliffen, aber auch volkstümlich und direkt, mit ausgeprägtem Gespür für die einzelnen Charaktere, eine dekadente Oberschicht, die absterbende Aristokratie, Bauern, Nazis, Sozialrevolutionäre, Mitläufer, Mätressen und Minderheiten.

Zur Minderheit der Zigeuner gehören zwei seiner Hauptfiguren: Julka und Marci. Die beiden lernen sich auf der Flucht kennen - sie können während eines Bombenangriffs der Deportation entkommen. Die beiden werden ein leidenschaftliches Paar, ziehen sich an, stoßen sich ab und können nicht voneinander lassen. Sie wissen, dass sie in Lebensgefahr sind, Beute für Pfeilkreuzler und deutsche Soldaten. Sie finden schließlich Unterschlupf beim alleinstehenden Bauern János Garas: Ein Dreiecksverhältnis in einer Endzeit.

Der Roman besticht durch politische Klar- und Weitsicht, Sinnlichkeit, Gesellschaftsanalyse und zugleich Unterhaltung. Jede Figur ist greifbar, die Protagonisten ebenso wie die Nebenfiguren. Auch, wie es Székely schafft, die Handlung auf eine Nacht zu fokussieren und dabei durch Rückblenden und Parallelerzählungen, sehr filmisch für Spannung und Tiefe zu sorgen, verdient Bewunderung.

Service

János Székely, "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann", Roman, Diogenes Verlag, 697 Seiten