Heimo Zobernig, Ohne Titel, 2017 (Ausschnitt)

SAMMLUNG LENTOS

"Ohne Titel" - Andrea Drumbl über Heimo Zobernig

"Ist nicht die fundamentalste Kunst die, die uns am meisten beansprucht?", fragt sich die Museumsbesucherin Andrea Drumbl vor einem Bild von Heimo Zobernig. Jedoch je mehr sie sich anstrengt, das Kunstwerk zu verstehen, desto mehr scheitert sie bei der Erkenntnissuche. Das abstrakte Bild bleibt, was es ist: abstrakt, und letztlich für die Betrachterin völlig hermetisch. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Wer ist Heimo Zobernig?
Wann habe ich begonnen, mir diese Frage zu stellen?
War es heute, war es gestern, war es übermorgen?
Wer ist Heimo Zobernig?
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Heimo Zobernig ist Maler, ist Künstler, ist Skulpteur, ist Designer, ist Performer, ist Filmer, ist Freigeist, ist Mensch. Heimo Zobernig ist 65. Heimo Zobernig ist Betrachter, ist Gestalter und ein Tänzer auf der Bühne der Farben und Formen. Sein Tanz ist wie das Umblättern einer Seite. Heimo Zobernig ist Künstler, ist Revolutionär und Provokateur.
Aber wer ist Heimo Zobernig?
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Heimo Zobernig ist der Anspruch auf Abstraktion, ist in der Abwesenheit anwesend und ist der Grund, sich diese Frage zu stellen, immer und immer wieder und so lange, bis die Zeit im Kopf ein Rad schlägt:
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Andrea Drumbl

PRIVAT

Andrea Drumbl wurde 1976 in Lienz geboren, sie wuchs im Kärntner Ort Kötschach-Mauthen auf und lebt heute in Linz. In der Edition Atelier erschienen von ihr Romane wie "Narziss und Narzisse" oder "Die Einverleibten". Zu ihrem ersten Roman "Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön" schrieb der Autor und Büchner-Preisträger Josef Winkler das Vorwort.

Geboren wurde Heimo Zobernig am 30. April 1958 in Mauthen in Kärnten, damals noch ein Ort mit einem eigenen Geburtenhaus. Im selben Jahr wurde Mauthen mit Kötschach zu einem Doppelort zusammengeschlossen: Kötschach-Mauthen, der Ort, in dem auch ich aufgewachsen bin. Kein Meer war dort, aber Berge, viele Berge und hohe Berge und ein Platz, der Heimo Zobernigs ist.

Mauthen liegt am Fuße der bezaubernden Karnischen Alpen und wurde im Laufe vieler Jahre zu deren Mittelpunkt.
Ein beliebtes Ausflugsziel für viele Veteranen ist der Soldatenfriedhof, der 771 Kriegstote aus dem Ersten Weltkrieg zählt und wie eine beinah verwelkte Staude am Zipfel der Ortschaft hängt. In den unvergleichlichen Karnischen Alpen liegt auf fast 2.000 Metern Höhe ein See, pittoresk zwischen Berggipfeln versteckt, den fast jeder kennt, und wer ihn nicht kennt, wird ihn auch noch kennenlernen. Manche Elegien wurden an diesem See verfasst und wieder ins Wasser geworfen. Der eine oder andere Hochzeitsantrag wurde dort ausgesprochen, aber wie ein Blatt vom Wind verweht. Braune Lederhosen gingen in diesem See zumeist baden. Es heißt, dass sich manchmal sogar ein Brillenschaf dorthin verirrt hat, sogar Schweine wurden schon in der Nähe des Sees zwischen vereinzeltem Edelweiß gesichtet. Vielleicht führen wirklich alle Wege zum Wolayer See.
Aber wer ist nun Heimo Zobernig?
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Heimo Zobernig bespielt Leinwände mit seinen poetischen Farben und Formen und reizt die Betrachter ohne Berührungsängste. Jeder Strich ist überlegt, nichts passiert aus Zufälligkeit und doch ist vieles zufällig.
Zufällig fällt einem das Leben in den Schoß, zufällig ist das Leben bunt und stark, doch die Farben des Lebens wachsen einem mit den Jahren über den Kopf, es entsteht ein Wald ohne Baumkronen, Nadeln liegen auf dem Boden, zufällig geht man über diesen Boden, zufällig barfuß, zufällig fällt einem ein Stein auf den Kopf, zufällig ist man tot und liegt auf Nadeln in einem Wald ohne Baumkronen. Zufällig? Heimo Zobernig würde vielleicht eine Antwort darauf haben.

Als ich zum ersten Mal nicht zufällig vor Heimo Zobernigs Gitterbild in einem exklusiven österreichischen Museum stand, vor dieser 200 x 200 x 4 cm großen collagierten Leinwand ohne Titel, einen roten Apfel in der Hand haltend und das Bild betrachtend, die Farben, die Schichten, die Formen und über Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm große collagierte Leinwand ohne Titel nachdachte, fielen mir aus unerfindlichen Gründen die Tarzanfilme mit Johnny Weissmüller ein, die ich als junges Mädchen mit den Großeltern in Kötschach-Mauthen, vor unserem Farbfernseher sitzend, anschaute. In fast allen dieser Tarzanfilme kam die Bedrohung von den Krokodilen her. Sie zerrissen ihre Beute und verschlangen sie, ohne sie zu kauen. Wussten Sie, dass Krokodile beim Zuschnappen die Augen schließen? Sie warten regungslos auf ihre Beute, um genug Energie zu haben, sich darauf zu stürzen und zuzuschnappen. Mit geschlossenen Augen. Menschen schließen beim Zungenkuss die Augen.
Krokodile genießen den Akt des Tötens so wie Menschen den Akt der Zärtlichkeit, nämlich mit geschlossenen Augen. In jenem österreichischen Museum vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stehend, schloss auch ich die Augen.

Lenya Gramß

VICTORIA NAZAROVA

Lenya Marie Gramß ist Jahrgang 2001, sie stammt aus Nürnberg. Aktuell ist sie am Wiener Burgtheater sowohl im Zweipersonenstück "Wutschweiger" unter der Regie von Anja Sczilinski im Vestibül zu sehen, als auch als Choristin in der Produktion "Die gefesselte Phantasie" unter der Regie von Herbert Fritsch. Außerdem spielt sie zurzeit bei den Festspielen Reichenau in der dramatisierten Fassung von Joseph Roths Roman "Die Kapuzinergruft".

Vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stehend und die Veränderungen zwischen den Gittern betrachtend, diesen Sog unter den Schichten und Farben, dachte ich daran, dass alles Veränderung ist. Selbst die Veränderung ist Veränderung und verändert sich mit jeder Veränderung. Gäbe es keine Veränderung, wären wir noch heute Säuglinge. Selbst die Mütter, die uns nähren müssten, wären Säuglinge. Es wäre eine Welt voller Säuglinge. Sie wäre gut, aber niemand würde diese Welt überleben.

Als ich in jenem exklusiven österreichischen Museum Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm große collagierte Leinwand ohne Titel betrachtete, von vorne, von hinten und im Vorübergehen, versuchte ich in Gedanken, den Klang einer Sekunde zu malen. Ich ging geradeaus, der Tag fiel aus der Stunde und wurde zum Doppelpunkt, zu einer Leinwand ohne Titel. Apfelkerne lagen auf dem Weg, Apfelschalen daneben. Ich sah sie rot leuchten und dachte an die Variationen in Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel und an die Märchen meiner Kindheit, an den Blaubart und die bösen Feen. Wer lebt jetzt wohl hinter den Bergen bei den Zwergen? Schlief Schneewittchen noch in ihrem Bett? Und war Dornröschen bereits tot? Von den Toten wieder auferstanden?

Ich bin beim Studium von Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel auf keine Hausdächer geklettert, bin beim Anschauen aber oft auf dem Mond gelandet und auch im Depot jenes exklusiven österreichischen Museums bei den Bildern. Heimo Zobernig stellt in seiner 200 x 200 x 4 cm großen collagierten Leinwand ohne Titel anhand einer Wahrnehmung Beziehungen her, mitunter beziehungslose Beziehungen, auch Abhängigkeiten, und Reibungskräfte, die einen nicht mehr loslassen. Ich habe Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm große collagierte Leinwand ohne Titel betrachtet, immer und immer wieder, bis mein klägliches Scheitern beim Betrachten begonnen hat. Es fing langsam an, es war ein ständiger Begleiter und ein wachsender Traum vom Scheitern, ein Nachtschattengewächs.
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Fällt man, wenn man die Schwerelosigkeit betritt, um herauszufinden, ob sie einen trägt? Und was geschieht, wenn alle Räume und Bilder ineinander fallen, dann wieder auseinander? So wie alle Räume und Bilder in Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierten Leinwand ohne Titel ineinander fallen, dann wieder auseinander. Ineinander. Auseinander. Vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stehend und mein Scheitern begreifend, war ich alleine mit mir und der Isolation meines Denkens.
Ist nicht die fundamentalste Kunst die, die uns am meisten beansprucht? Mich hat Heimo Zobernigs Kunst bis aufs Äußerste beansprucht, sie hat mich sozusagen aufgefressen, um mich wieder auszuspucken. Ich habe geschrien, so laut geschrien, bis mich niemand mehr hörte. Wenn sich nämlich, vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stehend, die Zähne am Speichel verbeißen, muss man beginnen, aufwärts zu schlucken, bevor man sich ganz verschluckt.

Vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stehend und die Farben und Formen betrachtend, dachte ich an die Farben meiner Kindheit, an die Sonntage, die gelb von den Gebeten waren und nach Braten und Malzkaffee rochen. Manchmal mischten sich auch noch andere Farben und Gerüche unter, ab und zu sogar Lieder und Jahreszeiten. Als ich damals jeden Sonntag römisch-katholisch gelangweilt auf der harten Kirchenbank im Gailtaler Dom sitzen musste, gelangten die Worte des Pfarrers nicht zu mir, stattdessen starrte ich auf die in einem Glasschrank stehende Statue des hl. Peregrinus, vor allem auf dessen bräunliches Bein, das von einem anscheinend furchtbar stinkenden Geschwür befallen war, und das ein kleiner barocker Engel verband. Ich starrte so lange auf das schwärende Bein des hl. Peregrinus, bis ich den ersten Wurm aus dem Verband kriechen sah. Natürlich sah ich keinen Wurm aus dem Verband kriechen, sondern nur fromme Menschen in der Kirche mit ihren Leichen in den Kellern. Doch einmal holte mich an einem Karfreitag, an dem gefastet wurde, bis mir schlecht war, der Karfreitagstod. Er kam gemeinsam mit dem Heißhunger. Sie nahmen mich und sperrten mich in den Glasschrank zum hl. Peregrinus, bis ich dort elendiglich verhungert und für alle sichtbar war als diejenige, die am Karfreitag nicht fasten konnte.

Daran dachte ich, als ich in jenem exklusiven österreichischen Museum vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stand und ich mir meines Scheiterns bewusst wurde. - Daran dachte ich, während ich vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stand, und auch an jenen leibgeteilten Käfer, den ich unlängst auf dem Boden liegen sah, rücklings und halbiert auf einem Pflasterstein. Ein Insektenbein bewegte sich noch, als würde es winken. Ein großer Käfer war es, ein Gregor Samsa, noch nicht ganz tot. Irgendwann hat der Käfer sein Insektenbein jedoch nicht mehr bewegt. Gott sei Dank, dachte ich mir, als ich dies sah, Gott sei Dank. In jenem österreichischen Museum stehend, hätte ich mich sogar in Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm große collagierte Leinwand ohne Titel hineingelehnt, nur um herauszufinden, ob es nicht die Leinwand ist, die mich zerreißt. Wie oft in meinem Leben bin ich schon gescheitert? Wird man gescheiter, wenn man scheitert? Zerbricht Zerbrochenes? Und was passiert, wenn man Zaubersprüche spricht? Wer zeigt den Vögeln die richtige Richtung? Wer zeigt ihnen den Weg?
Was geschieht, wenn nichts geschieht?
U N D W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

Heimo Zobernig ist der Aki Kaurismäki der Kunst, ist spannend, ist poetisch.
Heimo Zobernig ist Anstifter, ist Gründer, ist Visionär.

Es war einmal eine Leinwand, eine sehr weiße Leinwand, eine 200 x 200 x 4 cm große Leinwand, eine Leinwand ohne Titel, keine zwei Minuten alt. Sie lag noch nicht einmal in Farben, so weiß war sie, so heilig war sie.
Es ist immer der erste Strich, der Leinwände entjungfert und in den Abgrund führt zu tausend Gedanken und tausend Bewegungen. Ein Strich, auf den der nächste folgt und der übernächste und so weiter. UND SO WEITER.
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

In dem Moment, als ich in jenem österreichischen Museum vor Heimo Zobernigs 200 x 200 x 4 cm großer collagierter Leinwand ohne Titel stand und mir meines Scheiterns bewusst wurde, reichte mir jemand, dessen Gesicht ich nicht erkannte, einen roten Apfel, den ich die ganze Zeit schon in den Händen hielt.
W E R I S T H E I M O Z O B E R N I G ?

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