Zum 70. Geburtstag von Georg Friedrich Haas

16. September 2023, 12:00

Wer ist Georg Friedrich Haas? Über den österreichischen Komponisten wurden griffige Schlagzeilen formuliert. "Der wichtigste Komponist der Gegenwart" - "Experte für Mikrotöne und Sadomaso" - "Selbstbefreiung von der Nazifamilie". Haas, der aus einer Umfrage als bedeutendster Komponist der Welt hervorgeht. Haas, der seine BDSM-Vorlieben gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Mollena Williams-Haas, in einem Dokumentarfilm entwaffnend offenherzig präsentiert. Haas, der in seinen Memoiren die Läuterung von der Nazi-Ideologie beschreibt.

Die Musik von John Cage hat mitgeholfen, aus mir einen anderen Menschen zu machen

Hinter vorgehaltener Hand wird in Pausenfoyers getuschelt: Braucht er diese Aufmerksamkeit, der Haas? Reicht ihm nicht der Ruhm als einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart? Als Kompositionsprofessor an der Columbia University? Als Opern und Instrumentalkomponist? Als gewichtiger Teil einer Generation, die Österreich zur künstlerischen Großmacht der zeitgenössischen Musik gemacht hat?

Familiäre Situation geoutet

Dazu ein persönliches Erlebnis: Huddersfield im November 2016. Haas ist Composer in Residence dieses bedeutenden Festivals. Gerade hat er in Zeitungsinterviews seine jugendlichen Verstrickungen mit der nationalsozialistischen Ideologie thematisiert und seine Neigung zu SM-Praktiken öffentlich gemacht. Ihr geneigter Redakteur denkt sich: Haas wird froh sein, wenn es im Interview nur um seine Musik geht. Im konkreten Fall um die Uraufführung seines Streichquartetts Nr. 10. Beim Smalltalk nach dem Gespräch wirkt Haas enttäuscht. Er fragt, ob es denn ORF-Redakteuren verboten sei, Nazithemen zu streifen. Mitnichten. Wir beginnen das Interview von vorn.

"Es hat mich überrascht, wie wenig man mich in Österreich darauf angesprochen hat", sagt Haas dann. "Hier gibt es eine Tradition des Zudeckens, des Hinter-dem-Rücken-Redens. Ich habe meine familiäre Situation deshalb geoutet, weil es wichtig ist, klarzumachen: Man kann aus einer Nazifamilie kommen und ist trotzdem verantwortlich für das, was man denkt." Diese Offenheit mündet in politisch-musikalische Werke wie den "Monolog für Graz", 2018 uraufgeführt beim ORF musikprotokoll. 2022 erscheint "Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben" im Böhlau-Verlag.

Musik ist immer ein Schrei nach Freiheit

"Musik ist immer ein Schrei nach Freiheit", so Haas. Er sieht sich als Zeuge dafür, dass Kunst etwas verändern kann. Mehrere Erlebnisse hätten ihn aus der Vorstellungswelt seiner Familie hinauskatapultiert, u. a. die Musik von John Cage: "Sie hat mitgeholfen, aus mir einen anderen Menschen zu machen."

Das schönste Musikstück des neuen Jahrhunderts

Als das Magazin "Classic Voice" 2017 nach dem schönsten Musikstück des neuen Jahrhunderts fragt, gewinnt mit großem Vorsprung "In vain" von Haas. Das Werk ist zum Teil in völliger Dunkelheit zu spielen und führt tief in die Welt der Mikrointervalle und Obertonreihen, deren kompositorische Entdeckung Haas als Geschenk empfunden hat. Es steht für einen Komponisten, der sich neu erfunden hat, mit einer Entwicklung von mathematischen Modellen hin zur Klangsinnlichkeit, zum irritierend Schönen.

Aber man darf sich nicht von den faszinierend leuchtenden Obertonklängen täuschen lassen: "In vain" (auf Deutsch: "vergeblich"), versehen mit dem Gütesiegel "schönste zeitgenössische Komposition der Welt", ein nicht enden wollendes Abwärtsstürzen der Tonhöhen, entstand als Reaktion auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000.

Gestaltung

• Rainer Elstner