
HANSER VERLAG/CHRISTIAN WERNER
Roman
Tijan Silas "Radio Sarajevo"
Der bosnisch-deutsche Schriftsteller Tijan Sila war zehn, als die Belagerung Sarajevos begann. 1994 kam er als Kriegsgeflüchteter mit seiner Familie nach Deutschland. In seinem neuen dokumentarischen Roman "Radio Sarajevo" beschreibt er die Jahre des Krieges aus dem entlarvenden Blick eines Kindes - vom Pornoheftverscherbeln an die Blauhelme bis zum psychischen Empfinden, wenn man von der Druckwelle einer Detonation erfasst wird.
29. September 2023, 02:00
Sobald geschossen wurde, verkroch sich mein Geist ...
"... Ich hörte auf zu denken, fühlte weder Angst noch Langeweile …" Liest man gleich zu Beginn von Tijan Silas Roman "Radio Sarajevo". Und weiter: "Erst als nicht mehr geschossen wurde, trauten sich meine Gedanken aus ihren Löchern, schreiend, um sich beißend, und dann weinte ich."
30 Jahre ist es her, dass Tijan Sila im belagerten und unter Dauerbeschuss stehenden Sarajevo lebte. Drei Jahrzehnte, die die Erinnerungen, so scheint es, nicht etwa verwaschen, sondern ihnen, im Gegenteil, eine neue Präzision verliehen haben.
"Das war das einfachste meiner Bücher bisher. Es hat nur darauf gewartet, geschrieben zu werden", Tijan Sila im Gespräch mit Wolfgang Popp
Teer in den Gehirnrillen
"Diese dreißig Jahre haben dafür gesorgt", sagt Tijan Sila, "dass der Schmerz nicht mehr diese Überwältigung ist. Dass ich auch diesen Groll und diese große Wut nicht mehr spüre, sondern dass mein Grundgefühl beim Schreiben eine Mischung aus Trauer war - zum Teil auch Belustigung - und einem endlosen Staunen darüber, was für Katastrophen einen im Leben so erwarten."
Es sei wirklich erstaunlich, so Tijan Sila weiter, wie sich Ausnahmezustände wie ein Krieg auf die Erinnerung auswirkten: "Mir kommt es vor, dass ich an meine Studentenzeit in Deutschland gerade einmal fünf Erinnerungen habe. Es war eine wunderschöne Zeit, von der aber nichts hängengeblieben ist; wohingegen sich so eine schreckliche Zeit wie ein Krieg ins Gehirn einbrennt. Der Krieg sickert wie Teer in die Gehirnrillen."

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Keine Anklage
Tijan Sila folgt dem Rhythmus der Erinnerung. Er zeigt die Bilder, die sie ihm liefert, und versucht nicht erfundene Übergänge zwischen ihnen zu schaffen. Bei der Beschreibung der Szenen ist kein Satz zu viel, kein Wort gibt es da, das das Geschehen in Richtung Pathos kippen lässt, oder den Leser auf seine Seite ziehen will.
"Bevor man losschreibt, trifft man gewisse Grundsatzentscheidungen. Und ich wollte eben kein böses, wütendes, anklagendes Buch schreiben - ich finde, das ist in Deutschland auch gerade eine Mode geworden, diese 'J’accuse, j’accuse'-Bücher. Stattdessen sollte es ein persönliches und intimes Buch werden und eben keine politische Deklamation."
Das Böse bekommt kein Gesicht
So erfährt man, dass David Bowie im Radio lief, als die ersten Bomben fielen, wie das organisierte Verbrechen das belagerte Sarajevo im Griff hatte, und welche Süßigkeiten Sila und seine Freunde von den Blauhelmen bekamen, wenn sie ihnen in den Häuserruinen gefundene Pornohefte brachten. Den Aggressoren gibt Sila übrigens kein Gesicht.
"Ich wollte den Raum in meinem Buch nicht auf sie verschwenden und habe versucht, sie nur zum Hintergrund dieses Horrors zu machen. Sie verursachen ihn zwar, ich will ihnen aber nicht die Bühne bereiten. Die Männer, die uns damals bombardiert haben, sind heute alt, wenn sie denn noch leben, und ich wollte nicht, dass ich sie in meinem Buch auf eine Art und Weise verewige, die sie nicht verdient hätten."
Keine Frage: Romane über den Jugoslawienkrieg gibt es zuhauf, Tijan Silas Roman "Radio Sarajevo" ist aber weit mehr als ein Bericht aus einer belagerten Stadt, denn er zeigt, wie sich der Krieg über das Zeitempfinden und die Wahrnehmung legt: Da ist nichts mehr wie immer, während im Radio Bon Jovis "Always" läuft.
Service
Tijan Sila, "Radio Sarajevo", Roman, Hanser
Gestaltung
- Wolfgang Popp