Weiße Tiere

PINAR YOLDAS

musikprotokoll 2023

interconnected | interdependent

Seit 1968 beschäftigt sich Österreichs traditionsreichstes Festival für zeitgenössische und experimentelle Musik mit den drängenden Themen der Gegenwart. Die jüngste Häufung an Krisen stellt unseren vom Neoliberalismus auf die Spitze getriebenen Individualismus in Frage.

Das Festival lädt unter dem Motto "interconnected | interdependent" von 5. bis 8. Oktober dazu ein, die uns umgebende Umwelt nicht als statischen Ort, sondern als dynamisches Beziehungsgeflecht zu betrachten, das heute vielleicht mehr denn je einer bewussten Gestaltung bedarf.

Zum Festival-Auftakt am 5. Oktober geht es um die Generation, deren zukünftiges Leben von den derzeitigen Veränderungen geprägt sein wird: Kinder und Jugendliche setzen sich in eigenen Kompositionen mit dem Festivalthema auseinander. Als Gründungsmitglied des Festivalnetzwerkes ICAS und der Plattform SHAPE+ pflegt das musikprotokoll bereits seit 2010 einen regen Austausch mit gleichgesinnten Festivals auf der ganzen Welt. Auch heuer werden wieder zahlreiche SHAPE+ Artists auftreten.

Vorschau auf das ORF-Musikprotokoll

Meditationen und Brücken

Die Werkreihe "disposable instruments" von noid, die der Künstler im Rahmen einer SHAPE+ Artist Residency gemeinsam mit Anthea Caddy und Elisabeth Flunger weiterentwickelt hat, lädt die Besucher:innen zu einer Klangmeditation über die Wegwerfgesellschaft ein. Franziska Thurner, Abby Lee Tee und Manja Ristić erforschten im Rahmen einer weiteren SHAPE+ Artist Residency Klanglandschaften im österreichisch-tschechischen Grenzgebiet.

Heinali schlägt eine Brücke zwischen Alter und neuer Musik. Robert Schwarz koppelt Schwarmbildung mit Zeitsynchronisation. Amina Hocine spielt eine selbstentwickelte Pfeifenorgel. Und auch Sabiwa und Nathan L. werden mit neuartigen Instrumenten nach Graz reisen, darunter ein Blasinstrument, das - ganz im Sinne des Festivalmottos - nur von zwei Performer:innen gleichzeitig gespielt werden kann.

RSO Wien & Marin Alsop

Für Konzertformate kommen Künstler:innen nach Graz, deren Arbeit durch grenzüberschreitendes Forschen geprägt ist: "Sappho/ Bioluminescence" der australischen Komponistin Liza Lim wird erstmals in Österreich zu hören sein, gespielt vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Marin Alsop. Das RSO Wien spielt die österreichische Erstaufführung neuer Instrumentalkonzerte von Clemens Gadenstätter und Bernhard Gander sowie ein neues Werk von Clara Iannotta. Anschließend präsentiert das österreichisch-iranische Trio Gabbeh die Uraufführung seines neuen Programms.

Der in Kanada lebende Komponist Sandeep Bhagwati hat mit seinen Aufsätzen aktuelle postkoloniale musikalische Diskurse geprägt. Er komponiert ein neues Werk für das Klangforum Wien. Die Estin Madli Marje Gildemann, die Norwegerin Kristine Tjøgersen und die Britin Karen Power nutzen biologische Prozesse als Inspirationsquelle für ihre Musik.

Don-Giovanni-Syndrom umgedreht

Auch die lokale Verankerung ist gelebtes Selbstverständnis: Das Grazer Ensemble Schallfeld präsentiert neue und neueste Musik von Beat Furrer, Sergey Kim, Carlo Elia Praderio und Katherina Klement. Im Café Wolf vernetzt sich das musikprotokoll mit der Grazer Szene. Weitere Kooperationen mit Grazer Kulturinstitutionen beleuchten zusätzliche Facetten unseres Festivalthemas.

Viel Neues an vier Festivaltagen: Festivalabschluss ist am 8. Oktober eine Musiktheater-Uraufführung in Kooperation mit dem Johann-Joseph-Fux-Opernkompositionswettbewerb. Die Slowenin Nina Šenk dreht in "canvas" das Don-Giovanni-Syndrom um: Ein Mann dient Frauen als Projektionsfläche. Der Radioessay "An Emotional Encyclopedia of War" der in Kiew lebende Künstlerin Anna Kravets bildet den radiophonen Abschluss im Ö1 "Kunstradio".

Text: Rainer Elstner, Susanna Niedermayr und Fränk Zimmer, Kurator:innen des ORF musikprotokoll 2023