Rezension
Nargis Mohammadi, "Frauen! Leben! Freiheit!"
Mitte September 2023 jährte sich zum ersten Mal der Mord an der kurdisch-iranischen Studentin Masha Amini, die wegen eines angeblich schlecht sitzenden Kopftuchs verhaftet wurde und kurz darauf in einem Teheraner Gefängnis verstarb. Ihr tragischer Tod war Auslöser einer großen Protestbewegung gegen die islamische Führung im Iran. Unter welchen Bedingungen Frauen in iranischen Gefängnissen ihre Haftstrafen verbüßen und warum sie weiter für ihre Rechte kämpfen, dokumentiert die frisch gekürte Friedensnobelpreisträgerin Nargis Mohammadi in ihrem Buch "Frauen! Leben! Freiheit!".
6. November 2023, 02:00

Die iranische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Nargis Mohammadi war bereits 2021 für den Friedensnobelpreis nominiert. Seit Jahrzehnten hat sie sich dem Kampf für Frauen- und Menschenrechte verschrieben und engagiert sich im Besonderen für die Abschaffung der Todesstrafe, sowie der Praxis der Einzelhaft in iranischen Gefängnissen.
In ihrem aktuellen Buch "Frauen! Leben! Freiheit!" zeigt sie auf, wie Einzelhaft als eine Form der psychischen Folter von politischen Häftlingen in Irans Gefängnissen praktiziert wird. Die Hafterfahrungen von insgesamt 13 Frauen sind in dem Band versammelt. Der Titel der deutschen Ausgabe "Frauen! Leben! Freiheit! Wie wir unsere Stimmen erheben. Frauen in iranischen Gefängnissen erzählen", ist nicht nur sperrig, sondern auch irreführend. Es geht nicht etwa um Inhalte der Proteste oder um die Motivation der Frauen dahinter. In dem Buch, das in der englischen Originalausgabe schlicht "White Torture. Interviews With Women Prisoners" heißt, geht es einzig und allein um sogenannte weiße, also psychische Folter, die in den Einzelhaft Zellen iranischer Gefängnisse durch extreme sensorische Deprivation praktiziert wird.
Zitat - "Der Islamische Staat bekämpft das menschliche Bewusstsein selbst"
Das iranische Regime bedient sich heute anderer Foltermethoden als in den 1990ern, denn es weigert sich, die Existenz von Individuen anzuerkennen, deren religiöse, ethische oder politische Überzeugungen nicht mit denen des Staates übereinstimmen. Bei der Misshandlung Gefangener geht es nicht mehr darum, Informationen zu erpressen, die für den Staat von Wert sein könnten, sondern der Islamische Staat bekämpft heute das menschliche Bewusstsein selbst.
Das Kernelement der Folter im Gefängniswesen ist die weiße Folter, die regelmäßig neben Haft und Isolation gegen politische Gefangene eingesetzt wird. Ziel ist, die Verbindung zwischen Körper und Geist eines Menschen dauerhaft zu zerstören, um das Individuum zu zwingen, seiner Ethik und seinem Handeln abzuschwören.
Nargis Mohammadi wurde vorgeworfen, mit der Publikation des Buches das Ansehen des Iran in der Welt zu beschmutzen, und sie wurde bereits zum zwölften Mal in ihrem Leben verhaftet und zum vierten Mal zu Einzelhaft verurteilt. Nach Abbüßen der aktuellen Haftstrafe wird sie insgesamt mehr als 30 Jahre ihres Lebens und den Großteil des Lebens ihrer Kinder im Gefängnis verbracht haben. Doch sie hört nicht auf zu kämpfen.
In ihrem Vorwort schreibt die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri über Mohammedi:
Zitat aus dem Vorwort
Das Regime kommt nicht mehr nach mit den Verfahren. Denn Nargis macht einfach weiter. Fast wöchentlich gibt sie aus dem Gefängnis heraus Statements, die heimlich auf Toilettenpapier oder Kaffeefiltern herausgeschmuggelt werden, in denen sie zum Regime Change aufruft. Die Demokratie beschwört, Folter und Vergewaltigung im Gefängnis anprangert. Sie hört nicht auf.
In eben dieser Situation, eingesperrt und bewacht, gelang es Narges Mohammedi heimlich, Interviews mit ihren Mitgefangenen zu führen und so die aktuellen Zustände in iranischen Gefängnissen zu dokumentieren. Die Gespräche fanden also an Orten statt, zu denen weder Journalistinnen noch Vertreterinnen von Menschenrechtsorganisationen Zugang haben.
So berichtet beispielsweise Nigara Afsharzadeh, der Spionage für Turkmenistan vorgeworfen wurde und die eineinhalb Jahre in Einzelhaft verbrachte:
Zitat - "Ich war absolut einsam"
In so einer Zelle bleibt die Zeit stehen. Ich war absolut einsam. Die Zelle war still, man konnte rein gar nichts hören. Ich ging auf und ab, um irgendetwas wie zum Beispiel eine Ameise zu finden. Und jedes Mal, wenn ich eine fand, passte ich auf, dass sie nicht wieder verschwand. Ich sprach stundenlang mit der Ameise. Ich weinte, ich verzweifelte. Beim Mittagessen zerkleinerte ich den Reis und überschüttete den Boden damit, um die Ameisen anzulocken und mich mit ihnen zu beschäftigen.
Die Erinnerungen an die Erfahrungen der Einzelhaft sind noch frisch und unverbraucht. Durch zeitliche Distanz. Das macht das Buch "Frauen. Leben. Freiheit" zu einem ungemein wichtigen und wertvollen Beitrag zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen durch das iranische Regime. Den Bedingungen, unter denen das Buch entstand, geschuldet, sind die Texte teilweise sehr roh. Sie wurden aus dem Gefängnis hinausgeschmuggelt und im Ausland gedruckt, ohne dass Interviewerin oder Interviewte die Möglichkeit gehabt hätten, sie noch zu überarbeiten oder auch nur Korrektur zu lesen.
Die Frauen, die Narges Mohammadi interviewte, sind aufgrund ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen inhaftiert. Journalistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen oder Angehörige der Glaubensrichtungen etwa der Baha'i. Es sind allesamt Frauen, die sich nicht brechen lassen, die trotz allem weiterkämpfen für mehr Rechte, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit.
Service
Narges Mohammadi, "Frauen! Leben! Freiheit! Wie wir unsere Stimmen erheben. Frauen in iranischen Gefängnissen erzählen", Rowohlt Verlag
Gestaltung
- Sophie Menasse