Gardesoldaten am Freitag den 26. Oktober 2018

APA/GEORG HOCHMUTH

Radiokolleg

Der Mythos Neutralität

Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem Projekt zum Aufbau eines europäischen Luftverteidigungssystems, Sky Shield, ist die Diskussion um die österreichische Neutralität neu entflammt. Ist das Konzept der militärischen Bündnisfreiheit gar überholt?

Am Anfang war die Schweiz. In der Stunde null, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stellte sich für den österreichischen Staat und die österreichische Regierung die Frage nach der künftigen Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik. Das in den 1920er und 30er Jahren noch vorherrschende Großmachtdenken gemeinsam mit dem Anschlussgedanken an Deutschland verhinderten die Identitätsbildung eines unabhängigen Österreichs.

Obwohl sich der Völkerrechtler und letzte Ministerpräsident des kaiserlich-königlichen Österreichs, Heinrich Lammasch, bereits 1919 für eine neutralisierte, unabhängige ostalpine Republik Österreich ausgesprochen hatte, dauerte es bis zum Oktober 1955, als sich Österreich die immerwährende Neutralität per Verfassungsgesetz verordnete.

"Wir wollen für uns bleiben und es allein in der Welt versuchen.“

„Wir wollen nimmermehr in ein großmächtiges Reich, in irgendein Imperium eingebaut werden, um über Nacht wieder herausgerissen zu werden. Wir wollen für uns bleiben und es allein in der Welt versuchen.“ Was für den Bundespräsidenten Karl Renner 1946 offensichtlich beschlossene Sache zu sein schien, bedurfte zehn Jahre zäher Verhandlungen, um in ein Gesetz gegossen zu werden.

Bereits 1945 wurde jedoch immer die Schweiz in einem Atemzug mit den Vorteilen der Neutralität genannt, seien doch unsere autonomen Länder, wie Karl Renner bemerkte, verfassungsmäßig und in ihrer Denkweise den Schweizer Kantonen verwandt. Der Weg zum österreichischen Staatsvertrag, der um den Preis der Neutralität ausverhandelt wurde, war indes ein steiniger. Noch 1954 hatte die sowjetische Führung den österreichischen Staatsvertrag mit der Deutschland-Frage junktimiert. Zwischendurch drohte sogar eine Teilung Österreichs oder die Besatzung durch die Alliierten auch nach Unterzeichnung des Staatsvertrags.

Österreich ein Trittbrettfahrer?

Wiewohl die Neutralität heute von über 70 Prozent der Bevölkerung als unverzichtbar und identitätsstiftend bejaht wird, ist sie heute mehr ein Mythos als realpolitische Wirklichkeit. Durch Österreichs Beitritt zur EU 1995, der Teilnahme an der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon, ist die Neutralität in den Augen vieler politischer Beobachter stark ausgehöhlt worden. Manche Experten sprechen sogar von Österreich als Trittbrettfahrer oder sicherheitspolitischen Parasiten, da andere europäische Staaten im Kriegsfall eine militärische Beistandspflicht gegenüber Österreich erfüllen müssten- Österreich jedoch unter Hinweis auf seine Neutralität nicht zu militärischer Hilfe verpflichtet wäre.

„Ein neutraler oder bündnisloser Staat bleibt allein.“

67 Jahre nach der Ratifizierung des Neutralitätsgesetzes steht die österreichische Neutralität seit dem Beginn des Ukraine-Krieges mehr denn je auf dem Prüfstand. Unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine meldete sich Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol zu Wort und meinte: „Ein neutraler oder bündnisloser Staat bleibt allein.“

Mittlerweile hat sich auch die Plattform unseresicherheit.org gegründet, die durch zwei offene Briefe an die Öffentlichkeit getreten ist, um eine Debatte über Österreichs sicherheitspolitische Lage anzustoßen. Bis dato verhallte dieser Aufruf zu einer offenen Diskussion über die österreichische Neutralität - ganz im Gegensatz zur Schweiz, wo derzeit lautstark über sicherheitspolitische Optionen debattiert und gestritten wird.

Die Lager stehen sich in Österreich (hinter vorgehaltener Hand) jedoch nicht weniger kritisch gegenüber: auf der einen Seite die Anhänger der traditionellen, engagierten Neutralität, die sich auch bei militärischen Einsätzen unter UNO-Mandat bewährt habe; auf der anderen Seite sicherheitspolitische Hardliner, die Österreichs Militär für künftige Herausforderungen nicht gerüstet sehen und einem NATO-Beitritt gegenüber offen sind. Dem Mythos Neutralität scheint die militärpolitische Zeitenwende trotz aller Querschüsse jedoch noch keinen Abbruch getan zu haben.

Gestaltung: Johannes Gelich