Gesprungene Straße in Bosnien

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Ö1 Hörspiel

"Blasse Stunden/Blijedi sati" von Manuela Tomic

Neues Land - alte Heimat?

1998. Die siebenjährige Mira steigt mitten in der Nacht mit ihrer Familie in Völkermarkt ins Auto und fährt nach Bosnien, zu Dedo Ivos Begräbnis. Seitdem liegt der Großvater tot in einem Land, das Mira gleichermaßen nah und fern geblieben ist - bis heute.

Im Hörspiel "Blasse Stunden/Blijedi sati" nimmt die mittlerweile Dreißigjährige die Hörer:innen auf diese Reise in der Familienkutsche mit. Sie lässt sie an ihren Erinnerungen teilhaben, an ihren imaginierten Gesprächen mit dem Großvater. Sie erzählt von den Folgen des Kriegs für eine Familie, die in ein sicheres Land entkommen konnte. Ob sie jemals im neuen Land, jemals wieder in der alten Heimat ankommen wird?

Track 5'-Preisträgerin

Die Journalistin und Autorin Manuela Tomic gewinnt 2021 im Rahmen des Ö1 Kurzhörspielwettbewerbs Track 5' den zweiten Platz. Etwa zur selben Zeit startet sie als Redakteurin für "Die Furche" eine literarische Kolumne, "mozaik", in der sie über ihre bosnische Herkunft schreibt, über die Flucht nach Südkärnten und darüber, was die Menschen hier und dort verbindet. Ich fordere Manuela Tomic auf, diese Kolumnen zum Ausgangspunkt für ihr erstes Langhörspiel zu machen und kann die Ö1 Hörspielredaktion für diese Idee begeistern.

Während der folgenden Monate treffen wir uns im immer gleichen Kaffeehaus, reden über den Jugoslawienkrieg, über das Leben zwischen den Kulturen, diskutieren erste Skizzen, einzelne poetische Bilder und kommen dabei immer wieder auf die Sprachen, die in Manuela Tomic’ und im Leben der Protagonistin, Mira, zentrale Rollen spielen - Deutsch, Bosnisch, Kroatisch, Serbokroatisch. Ich erfahre von feinen Unterschieden und der politischen Konnotation ihres Gebrauchs.

Manuela Tomic

Manuela Tomic

MICHAEL OBEX

Allein aus dem Kontext verstehen?

Immer wieder will ich wissen, wie das, was die Autorin ihre Figuren auf Deutsch sagen lässt, auf Serbokroatisch klingt. Wie viel würden die Hörerinnen und Hörer verstehen, ohne die Worte zu kennen, allein aus dem Kontext heraus? Kann es mit einer zweisprachigen akustischen Umsetzung dieses Texts gelingen, die sprachliche Realität vieler in Österreich lebender Flüchtlinge und das Einanderverstehen und Nichtverstehen im Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Kulturen abzubilden? Immer häufiger bitte ich Manuela Tomic, einzelne Passagen ins Serbokroatische zu übersetzen.

Wir suchen Schauspielerinnen und Schauspieler, die Deutsch und Serbokroatisch sprechen. Nur die Rolle der Mira besetzen wir mit einer Schauspielerin, die das Serbokroatische nicht beherrscht, die die Sprache von Vater, Mutter und Dedo Ivo nicht spricht. Die Protagonist:innen von Vater und Mutter werden ihr helfen müssen. So ergeben sich im Studio Spielszenen, die nicht im Manuskript stehen. Da die biografischen Hintergründe der Schauspieler:innen jenen der Autorin ähneln, entstehen Diskussionen über regionale sprachliche Unterschiede. Die mehr oder weniger starken schauspielerischen Akzente fügen neue, interessante Klangfarben hinzu. Wenn die Schauspieler:innen vom Deutschen ins Serbokroatische wechseln, klingt ihre Stimme anders, höher, tiefer, dunkler, heller.

Wache Reflexion & Sekundenschlaf

Das alles ist oft nur zwischen den Worten, zwischen den Sätzen zu hören. Es muss im Stück nicht explizit verhandelt werden, trägt aber wesentlich dazu bei, "Blasse Stunden/Blijedi sati" zu dem zu machen, was es sein soll: ein Hörstück zwischen wacher, poetischer Reflexion und Sekundenschlaf, aus dem Mutter und Tochter den Vater auf der Fahrt von Völkermarkt in das weit entfernte Kreševo immer wieder herausreißen müssen.

Gestaltung

  • Andreas Jungwirth