Victoria Coeln - Das Parlament im Licht der Menschenrechte

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Ö1 Schwerpunkt

Gleich an Würde und Rechten

75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

Es ist den Menschenrechten immanent, dass sie aufzeigen, wohin wir uns mit diesen großen, hehren Zielen alle hinbewegen sollten, und gleichzeitig wird deutlich, dass es noch jede Menge zu tun gibt. Vor 75 Jahren wurde, als Reaktion auf die menschenverachtenden rassistischen Gräueltaten des Nationalsozialismus, am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet: "Alle Menschen sind von Geburt gleich an Würde und Rechten geboren ..."

Jubiläen dieser Art sind eine Einladung, ein wenig innezuhalten: Was ist uns weniger gelungen und wo sehen wir Fortschritte? Wiewohl man Menschenrechte nicht priorisieren soll - sie sind schließlich alle gleich wichtig und stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit -, ist das Recht auf Leben doch eine beachtliche Grundgröße. Wo stehen wir da in Österreich? Jedes Jahr werden dramatisch viele Frauen Opfer von Femiziden. Damit wird das Recht auf Leben ständig verletzt. Nicht nur ist jeder einzelne Fall ein Verlust und eine Menschenrechtsverletzung, es ist auch jedes Mal ein Scheitern an den Verpflichtungen, entschieden mehr zu tun, um die Morde an Frauen zu verhindern. Denn: Menschenrechte richten das Augenmerk auf alles, was man - menschenrechtlich - tun kann, um eine Verletzung hintanzuhalten. Also: grundlegende strukturelle Probleme in der Gleichstellung sanieren, die Wertigkeit von Menschen, insbesondere im öffentlichen Raum und medialen Diskurs, hochhalten und der Verachtung gegenüber einzelnen Personen Einhalt gebieten.

Victoria Coeln - Das Parlament im Licht der Menschenrechte

"Das Parlament im Licht der Menschenrechte" von Victoria Coeln, 2023

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Menschenwürdig behandelt & sicher

Dass alle Menschen menschenwürdig behandelt werden, ist ein zentrales Momentum der Menschenrechte. Ein weiteres Kernanliegen: Sicherheit. Der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte liegt ein breiter Sicherheitsbegriff zugrunde: Jede und jeder soll sich sicher fühlen, zum einen in einem Mindestmaß an sozialer Absicherung und Unterstützung, zum anderen frei von Vorurteilen und anderen Mechanismen der Ausgrenzung leben zu können - ohne Stigmata. Der Sicherheitsbegriff hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verengt, und die multiplen Krisen der Gegenwart sind eine Erinnerung daran, den Begriff »Sicherheit« mit konkretem Inhalt zu füllen.

Sicherheit gewinnt in der Klimakrise an Bedeutung. Wie steht es um die Sicherheit von älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen, wenn die Sonne herunterbrennt? Wie unterstützen wir die vielen alleinstehenden älteren Personen, vor allem Frauen, die aufgrund struktureller Ungleichheiten eine Mindestpension erhalten? Welche Sicherheiten sollten wir ihnen auf Basis der Menschenrechte zukommen lassen? Wozu ist der Staat hier verpflichtet? Stichwort Klimakrise. Diese ist auch Anlass für eine Aktualisierung der anerkannten Menschenrechte. So wurde das "Recht auf eine sichere, gesunde und nachhaltige Umwelt" erst vor Kurzem durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen anerkannt. Der Konnex zwischen Recht auf Leben und den Bedrohungen durch den rasanten Klimawandel wurde auch jüngst durch ein Verfahren von mehreren Kindern und Jugendlichen aus Portugal vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte deutlich gemacht.

Es bleibt genug zu tun ...

Wurde die Allgemeine Erklärung 1946 bis 1948 von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Ländern (56) verhandelt, umfassen die Vereinten Nationen nun 193 Staaten. Seither sind mehrere verbindliche Menschenrechtsverträge ausverhandelt worden, unter wachsender Beteiligung der Zivilgesellschaft. Verhandlungsprozesse sind 75 Jahre später wesentlich repräsentativer für die Vielfalt in der Gesellschaft und werden nicht mehr ausschließlich von Diplomatinnen und Diplomaten geführt. Im Nebeneffekt sind Verhandlungsprozesse, wie zum Beispiel der aktuelle über die mögliche menschenrechtliche Verpflichtung von multinationalen Konzernen, wesentlich transparenter.

Während noch unklar ist, ob es eine solche Verpflichtung für private Unternehmen geben wird, hat die Europäische Union jüngst beschlossen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine der menschenrechtlichen Grundlagen für die Unternehmensberichterstattung von Konzernen in Europa ist. 75 Jahre später: Es bleibt genug zu tun, um alle Menschenrechte für alle Wirklichkeit werden zu lassen.

Text: Marianne Schulze, Menschenrechtsexpertin