Altes Gemäuer in Siena

APA/AFP/Alberto PIZZOLI

Ö1 Kunstgeschichten

Cella Interna. Ein Besuch bei Caterina von Siena.

In der Basilica di San Domenico von Siena befindet sich ein Fresko des italienischen Malers Andrea Vanni: "Caterina da Siena e una devota". Es stellt die Heilige Caterina als junge Frau mit einer ihr ergebenen Gläubigen dar. In unmittelbarer Nähe zu diesem idealisierten Bildnis sieht man Caterinas eher schaurig wirkende Schädelreliquie. Ursula Wiegele berichtet als Italienreisende von ihrem Versuch, diese zwei Caterinas auf einen Nenner zu bringen. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.


Endlich Sonne. Ich hatte Siena nur mit Sonne in Erinnerung, und heute, bei meiner Ankunft, hat es geregnet. Durch die Glasfront des Hotelzimmers gibt es freie Sicht auf den Hügel gegenüber. Die rotbraunen Häuser beginnen zu leuchten, der schwarz-weiß gestreifte Dom strahlt jetzt im Sonnenlicht. Ich öffne die Balkontür und trete hinaus. Auf den Ziegeldächern Moose und Flechten, da und dort ein Grasbüschel. Unten in der Gasse ist niemand zu sehen.

Das Hotel ist in den Hang des Hügels San Domenico gebaut, nur wenige Schritte sind es von hier hinauf zur gleichnamigen Basilika der Dominikaner. Dort, in der Capella delle Volte, ist eines der Gemälde zu sehen, die mich immer wieder in diese Stadt zurückkehren lassen: Andrea Vannis Bildnis der Caterina da Siena.

Ursula Wiegele

Ursula Wiegele wurde 1963 in Klagenfurt geboren, sie lebt in Graz. Nach einer Zeit als Wanderstudentin an theologischen Fakultäten in Österreich und Italien schloss sie ein Philosophiestudium ab. Zuletzt erschienen von ihr die Romane "Malvenflug", "Arigato" und "Was Augen hat und Ohren".

Schnell verstaue ich meine Kleidung im Schrank, dann kann ich losgehen. Zuerst zu einem Haus in der Contrada di Pantera, zu meinem allerersten Quartier hier in Siena – ein nostalgisches Ritual. Vor Jahrzehnten habe ich dort längere Zeit gewohnt. Im Gassengewirr verliere ich die Orientierung. Manchmal hilft mir der Blick auf einen markanten Turm, dann ein Schild, das die Richtung zu einer Sehenswürdigkeit anzeigt. So finde ich mich wieder zurecht.

Vermutlich war es nicht der kürzeste Weg, der mich hierhergebracht hat, aber jetzt stehe ich in der richtigen Gasse vor dem richtigen Haus. Auf die Klingel drücke ich nicht. Seit langer Zeit schon sind hier die Läden geschlossen, der Postkasten quillt über, einige Werbeprospekte liegen auf dem Pflaster darunter.

Vor vierzig Jahren öffnete mir Flora, die Hausangestellte. Sie führte mich gleich über die Treppen zu meinem Zimmer auf der dritten Etage. Der Raum war überladen mit Teppichen, Bildern und dekorativen Stoffbezügen. An der hellblauen Decke Scheinreliefs, die einen weißen Stuck mit Tauben, Blättern und Gesichtern vortäuschten, an den Wänden Textiltapeten mit Blumen- und Blattornamenten. Und darüber hingen noch Gemälde in schweren Messingrahmen. Ein Himmelbett stand im Zentrum des Raumes. Signora Conti erwarte mich unten in ihrem Salon, sagte Flora, aber ich könne mich noch ein wenig frischmachen. Sie zeigte auf eine schmale Tür. Dahinter ein WC, ein Waschbecken und ein Duschkopf an der Wand. Als ich duschte, flutete das Wasser den winzigen Raum und verschwand in einem Abfluss zwischen den Bodenfliesen.

Brigitte Karner

Die Ö1 Schauspielerin des Jahres - Brigitte Karner

Brigitte Karner ist Kärntnerin des Jahrgangs 1957. Sie stammt aus Völkermarkt und absolvierte ihre Ausbildung an der Schauspielakademie Zürich. Neben Theaterengagements in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland gestaltete sie zahlreiche Kino- und Fernsehrollen. 2023 wurde sie von der Ö1 Hörspielredaktion im Rahmen einer Gala als "Schauspielerin des Jahres" ausgezeichnet.

Ich zog frisches Gewand aus meinem Koffer und schlüpfte hinein. Dann ging ich die Treppen hinunter. Auf der ersten Etage roch es nach Kerzenwachs. Durch die einzige offene Tür trat ich in den Salon. Drinnen schien Abend zu sein oder Nacht, die Fensterläden waren geschlossen. Unter schmutziggelben Stoffschirmen leuchteten schwache Glühbirnen. Auf Tischchen, Kommoden und Regalen brannten Kerzen. Während ich mich umsah, kam Flora. "Warum ist hier Nacht?", fragte ich. "Die Signora hat ein Augenleiden", antwortete sie, "Sonnenstrahlen könnten ihrer Netzhaut schaden. Darum bleiben vormittags die ostseitigen Läden geschlossen."

Noch während sie sprach, betrat Signora Conti den Raum, gekleidet in einen silbergrauen Morgenmantel mit aufwändigen Bordüren. Für eine Italienerin erschien sie mir auffallend groß. Die Signora hatte einen schlanken, sehnigen Körper. Ihre langen weißen Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Brauen, Mund, Nase, Haaransatz und Kinn: markante Linien eines schönen Gesichts. Signora Conti setzte sich in den Ohrensessel am Ende des Tisches und forderte mich auf, neben ihr Platz zu nehmen. Flora brachte eine Karaffe mit Rotwein und schenkte uns ein. "Trinken Sie", sagte die Signora und nahm selbst gleich einen großen Schluck. Ich wollte nicht unhöflich sein und nippte am Wein, obwohl mir Rotwein nicht schmeckte. Und Rotwein mitten am Vormittag war mir gänzlich fremd. Signora Conti fixierte mich und sagte lange kein Wort, als würde sie in meinem Gesicht etwas suchen.

Ein knatterndes Motorrad holt mich zurück in die Wirklichkeit dieses Vormittags. Mit dem Rücken ans Haustor gelehnt hatte ich mich in Erinnerungen verloren. Mein nächstes Ziel ist die Pinacoteca Nazionale, nicht weit von hier. In deren abgedunkelten Räumen wandere ich durch Bildwelten des Mittelalters und der Renaissance.

Erst am Abend stehe ich vor dem Bildnis der Caterina da Siena in der Basilika San Domenico. Mit nur halb geöffneten Augen blickt die Heilige auf die vor ihr kniende Frau hinunter, oder blickt sie vielmehr ins Nirgendwo? Andrea Vanni hat das Fresko im Jahr von Caterinas Tod gemalt. Schwer krank, abgemagert und ausgemergelt war sie den Berichten gemäß zu diesem Zeitpunkt, auf dem Fresko aber ist nichts davon zu bemerken, da regieren Schönheit und innere Ruhe. Die weiße Lilie betont Reinheit und Würde in dieser Bildkomposition. Pestkranke hat Caterina gepflegt, einen Verurteilten tröstend bis zum Schafott begleitet. Sanftmut strahlt mir von diesem Fresko entgegen.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier stehe. Es ist ruhig geworden in der Basilika, die Abendmesse vorne am Hauptaltar ist vorüber, nur hin und wieder höre ich ein blechernes Geräusch - den Aufprall einer Münze im Opferstock. Geopfert habe sie jahrelang, erzählte mir Signora Conti damals, und Blumen abgelegt vor Caterina, nachdem ihre Brüder gegen Russland gezogen waren. Alles umsonst. Die Schutzpatronin Italiens habe ihre Hilfe versagt. Keiner der drei kam zurück.

Ich verlasse die Gewölbekapelle und gehe durch das Kirchenschiff vor bis zur Seitenkapelle mit den Reliquien der Heiligen. Caterinas mumifizierter Kopf hinter Gitter ist kein schöner Anblick. Die leeren Augenhöhlen. Reste von Zähnen im Kiefer. Haut und Fleisch wie über dem Schädelknochen verdorrt. Caterinas Abbild auf Vannis Fresko und dieser Schädel erscheinen mir wie zwei getrennten Wesen zugehörig, so verschieden, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Was uns Heutige irritiert, das kann ich mit diesem mumifizierten Kopf viel eher verbinden: Caterinas Aufruf zum Kreuzzug, ihre Verachtung der Sinne als Wurzel des Bösen und die Selbstgeißelungen, denen sie sich unterwarf.

Zurück im Hotelzimmer schließe ich die Läden nicht. So kann ich den beleuchteten Dom, von den Einheimischen Zebra genannt, auch noch vom Bett aus sehen. Ein schlafendes Tier am Hügel gegenüber. "Einfach hat Caterina es sich gemacht mit ihrem Jesus", erinnere ich mich an die Worte von Signora Conti, "die Vermählung mit dem himmlische Bräutigam ersparte ihr jedenfalls die Gefahr, im Kindbett zu verrecken." Caterina gelobte schon in jungen Jahren ewige Jungfräulichkeit. Ihre Lieblingsschwester Bonaventura war in Folge einer Geburt gestorben. Ich weiß nicht, ob das eine mit dem anderen zu tun hat, Signora Conti hat es behauptet.

Einfach war es für Caterina aber nicht, ihren Weg zu gehen. Um das Mädchen vom Beten, Fasten und den Selbstgeißelungen abzubringen, entließ die Familie Benincasa die Hausangestellte und teilte deren Arbeit der Tochter zu. Als ihr auch das eigene Zimmer, ihre Zelle, weggenommen wurde, als Caterina diesen Rückzugsort verlor, fand sie Zuflucht an einem imaginären Ort, den sie ihre cella interna nannte. Das klingt modern. Ein Bereich der Ruhe im Inneren, in der eigenen Mitte, ein Raum, den niemand anderer betreten kann. Eine Oase, wo man unbeobachtet ist und frei.

Sonntagfrüh erwache ich durch das Geläute vom Dom herüber. Duft von Kaffee und frischem Gebäck ist bis in mein Zimmer gedrungen. Im Frühstücksraum treffe ich auf eine amerikanische Reisegruppe. Laut geht es zu unter den alten Gewölberippen. Ein japanisches Paar aber trinkt still seinen Tee.

Bevor ich mich aufmache zum Friedhof, muss ich noch umziehen. Eine durchgängige Zimmerbuchung war nicht möglich gewesen. Ich rutsche eine Etage und eine Preisklasse tiefer, aber die Aussicht auf den Hügel mit dem Dom ist noch immer grandios. Erst gegen halb elf verlasse ich das Hotel. Schon jetzt ist es draußen sehr warm. Auf dem langen Weg wird es heiß. Ich wechsle die Straßenseite, wo immer ein Baum ein wenig Schatten wirft oder ein Haus. Auf dem riesigen Camposanto della Misericordia gehe ich zur Ruhestätte der Signora. Viele Gräber hier erscheinen ungepflegt. Verdorrte Pflanzen, umgekippte Grablichter. Über dem Namen Emilia Conti eingemeißelt ist der Name ihres Mannes Federigo. Ob in einem Bett aus kühler Erde auch Konflikte zur Ruhe kommen, frage ich mich. Flora nannte die Ehe der beiden eine tragedia.

Wenn die Signora viel getrunken hatte, erzählte sie mir Dinge, nach denen ich nie gefragt hätte. Sie redete dann sehr langsam und mit vielen Pausen, was mir beim Zuhören entgegenkam. "Der Arzt riet mir, ein Kissen unter das Gesäß zu legen", begann sie einmal spätabends. "Nach drei Jahren schickte er mich für einen Monat auf Kur, nach Montecatini Terme. Im Jahr darauf für drei Monate, und als ich siebenunddreißig war und noch immer nicht schwanger, blieb ich den ganzen Winter über dort. Im März kam ich zurück, zu Frühlingsbeginn. Da war das Hausmädchen schwanger. Federigo verlangte von mir, dass ich meinen Zorn nicht zeige. Ich hätte die Kleine am liebsten gleich fortgeschickt. Maria Rosa hieß das Luder. Dann aber trafen wir ein Arrangement. Wir wollten das Kind adoptieren. Maria Rosa sollte nach der Geburt nach Sardinien zurückgehen, zu ihren Eltern. Die Familie war arm. Die Kleine hätte viel Geld mit nach Hause bringen können." "Das Mädchen wollte das nicht?", fragte ich.

"Zuerst war die Kleine dazu bereit. Sie wusste doch selbst, was ihr bevorstand, wenn sie schwanger zurückkehren würde oder mit einem unehelichen Balg. Ihr Vater! Ihre Brüder! Federigo bestand darauf, dass sie sich ausruhen konnte, er übte mit ihr Lesen und Schreiben. Wir mussten uns damals um ein neues Hausmädchen umschauen. Die Kleine saß nämlich draußen auf der Terrasse und ließ sich bedienen. Aber eines Tages kam sie am Abend in den Salon und erzählte wirres Zeug. Sprach von einem göttlichen Zeichen. Sie könne ihr Kind nicht zurücklassen, sagte sie. In San Domenico war sie stundenlang vor dem Bildnis der Caterina gekniet - sie ging ja immer dorthin zum Beten. Caterina hätte sich ihr zugewandt, behauptete die Kleine, die Heilige hätte ihre Augen weit geöffnet und gesagt: 'Geh fort mit deinem Kind!' So ein Unsinn! Aber Federigo hat Maria Rosa ziehen lassen, mit viel Geld in der Tasche. Er hat ihr die ganze Summe gegeben, die wir vereinbart hatten für unseren Handel." Erst nach einiger Zeit wagte ich wieder eine Frage in die Stille hinein: "Wohin ist das Mädchen gegangen?" "Keine Ahnung. Zurück nach Sardinien wollte die kleine Betrügerin ja nicht. Ihr Vater hätte sie vermutlich erschlagen."

Die Signora hatte die letzten Worte mehr gelallt als gesprochen. Wie der Wein ihr die bösen Erinnerungen zugetragen hatte, befreite er sie wieder davon. Ein heftiges Zucken, dann schlief sie ein, mit offenem Mund, den Kopf seitlich gegen die Rückenlehne des Ohrensessels gelagert. Flora holte Pölster und stützte den Körper der Schlafenden ab. Sie flüsterte kaum hörbar: "Das Hausmädchen, das sie damals neu aufgenommen haben, war ich."

Vom Friedhof zurück ins Zentrum. Für heute habe ich mir den Palazzo Pubblico vorgenommen. Drinnen ist es angenehm kühl. An den Fresken von Lorenzetti kann ich mich nicht sattsehen. Caterina muss sie gekannt haben. Die Effekte einer guten Regierung und jene einer schlechten, an vielen Details sichtbar gemacht. Am späten Nachmittag sitze ich auf dem Backsteinboden der Piazza del Campo. Selbst im Schatten strahlen die Terrakottaziegel noch Wärme ab. In den Ritzen wächst Gras und Miniaturklee. Zwei junge Frauen aus meiner Heimat lassen sich neben mir nieder. Die beiden lachen über die Sexy Pasta, den männlichen Geschlechtsorganen nachgeformte Nudeln. Die gibt es hier überall in den Auslagen der Lebensmittel- und Souvenirläden.

In wenigen Stunden soll ich nach Florenz aufbrechen, von dort geht es weiter mit dem Nachtzug nach Wien. Ich muss noch zurück zum Hotel, an der Rezeption wartet mein Koffer. Auf dem Weg dorthin überkommen mich Zweifel. Viel lieber möchte ich noch hierbleiben, wie schon bei meinem allerersten Aufenthalt in Siena. Den hatte ich um mehrere Wochen verlängert. "Ich möchte Wurzeln schlagen in der rotbraunen Erde", schrieb ich damals voll Pathos auf Postkarten in die Heimat. Die Gemälde der sienesischen Trecento-Maler, die gotischen Häuser und Gassen, die Pinien, Zedern und Oleanderbüsche, die Weinberge und Olivenhaine vor den mächtigen Stadtmauern, all das hielt mich fest. Aber heute muss ich mich losreißen.

Ein letzter Besuch noch bei den zwei Caterinas in der Basilika. Andrea Vannis Porträt und den mumifizierten Kopf habe ich auch diesmal nicht auf einen Nenner gebracht. Vor dem Fresko stehend scheinen mir heute Caterinas Schleier und die weißen Lilienblüten ganz besonders zu leuchten. Die Begriffe Schönheit und Unsterblichkeit kommen mir in den Sinn. Ein paar Schritte weiter, vor dem mumifizierten Schädel der Caterina, frage ich mich, wie es ihrer Mutter Lepa ergangen sein mag beim Tod der Jüngsten. Lepa war 73, als Caterina mit 33 Jahren gestorben ist. Fünfundzwanzig Mal hat Lepa geboren, wie viele Kinder überlebt haben, weiß ich nicht. Ob sie Frieden geschlossen hat mit der widerspenstigen Tochter, die als gläubige Frau nicht geschwiegen, sondern sich eingemischt hat in kirchliche und politische Angelegenheiten, die leidenschaftlich für eine Reform der Kirche eingetreten ist und für Frieden zwischen den italienischen Stadtstaaten.

Ich zögere, das Hotel zu betreten. Rieche am Oleander, der vor dem Eingang steht. Unschlüssig gehe ich durch die Tür. Zum Glück steht kein Gast an der Empfangstheke. "Hätten Sie ein Zimmer für eine weitere Nacht?", höre ich mich fragen. Der Rezeptionist schaut auf den Bildschirm. Das einzig mögliche Zimmer sei eine camera singola economica, sagt er, aber ohne richtige Dusche. Dafür sei es eine camera con vista. Das klingt beruhigend - es ist also keines der hangseitigen Zimmer ohne Aussicht. "Dieses Zimmer vermieten wir nur im Notfall", sagt der Rezeptionist. "Ja bitte", sage ich, "es ist ein Notfall." Der Mann lächelt und übergibt mir den Schlüssel. Ich bin erleichtert, nehme mein Gepäck und fahre mit dem Lift ins dritte Stockwerk hinauf.

Das Zimmer: ein Bett und ein Kasten und dazwischen ein Schluf. Rechts hinter dem Eingang eine Schiebetür zur Nasszelle mit Waschbecken, WC und einem Duschkopf an der Wand. Während ich dusche, flutet das Wasser den Raum und verschwindet in einem Abfluss zwischen den Bodenfliesen. Wie damals im Haus der Signora. Auch dort war die Zeit stehen geblieben. Die Signora achtete darauf, dass nichts Neues die alte Ordnung störte. Der Kühlschrank stand versteckt in der Speisekammer hinter der Küche. Fernseher gab es keinen.

Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen im Haus der Signora, dass ich mit Flora keine privaten Gespräche führen sollte. Wir siezten uns in Gegenwart der Hausherrin, als wir schon längst Du zueinander sagten. So kratzten wir nicht am ihrem Bild von Königin, Hofdame und Dienerin. Obwohl Signora Conti davon überzeugt war, dass ich in der Küche nichts verloren hätte, lehrte mich Flora einige Gerichte zu kochen. Ribollita. Panzanella. Risotto al cavolo. Durch die gemeinsamen Stunden am Herd waren wir einander nähergekommen. Flora legte mir gegenüber ihre professionelle Unterwürfigkeit ab. Gegen Ende meines Aufenthalts schickte sie mich sogar einmal auf den Markt um Basilikum und Artischocken. Ein anderes Mal in die Putzerei, um den mit Rotwein verfärbten Schlafmantel der Signora reinigen zu lassen. Geheime Aufträge.

Ich fragte Flora nach Maria Rosa. Sie erzählte mir, dass sie das schwangere Mädchen oft hatte trösten müssen. "Nachdem Maria Rosa fortgegangen war", sagte sie, "bin ich in der Nacht aus furchtbaren Träumen hochgeschreckt. Dann bin ich frühmorgens gleich nach San Domenico gegangen und habe zu Santa Caterina gebetet." "Hast du später einmal etwas von Maria Rosa gehört?", fragte ich Flora. "Ja", antwortete sie, "aber daran will sich die Signora nicht mehr erinnern. Nach drei Jahren kam ein Brief, adressiert an ihren Mann. Grazie di Santa Caterina! Ich habe am Kuvert sofort die ungeübte Handschrift erkannt. Absender war keiner drauf, aber am Poststempel konnten wir Genua entziffern. Der Padrone zeigte mir den Inhalt des Kuverts: ein Foto, sonst nichts. Maria Rosa mit einem Knaben am Schoß. Der Knabe in einem Matrosenanzug. Seine Mutter mit einer Schleife im Haar. Maria Rosa war noch schöner geworden. Der Padrone gab sofort Inserate auf. Umsonst. Meine Gebete zu Santa Caterina aber zeigten nach acht Jahren noch einmal Wirkung: Da kam ein Brief mit einem Foto des Knaben. Komm, ich zeige es dir."

Wir gingen in Floras Dienstbotenzimmer. Unter einem Stoß frischer Bettwäsche zog sie eine hellbraune Ledermappe heraus. "Die hat mir der Padrone anvertraut", sagte sie. Flora öffnete die Mappe und holte die alten Kuverts mit Maria Rosas Handschrift hervor. In der Mappe befanden sich auch mehrere Briefe des verstorbenen Hausherrn an seinen unbekannten Sohn. Caro figlio als Anrede, er wusste ja nicht einmal seinen Namen. Briefe, die er nie abschicken konnte. "Der letzte Brief ist mit 28. April 1983 datiert", sagte Flora, "das war zwei Wochen vor seinem Tod." Unter den Briefen lagen Durchschläge von Inseraten und Anfragen an Meldeämter. Dokumente einer langen Suche. Flora fuhr mit der Hand ihren braunen Zopf entlang, den sie sonst meist in Form eines Knotens aufgesteckt trug. "Also, mich haben sie genommen, weil ich eine verbogene Nase habe", sagte sie nüchtern. "Weil ich hässlich war und nicht schön wie Maria Rosa, haben sie mich genommen."

Meine Gedanken kehren zurück zur Heiligen Caterina. Als sie zwölf war, sollten ihre weiblichen Reize durch kunstvolle Frisuren betont werden. Die Eltern waren schon auf der Suche nach einem Ehemann, nach einer guten Partie. Caterina aber schnitt sich heimlich die Haare ab und verhüllte den Kopf mit einem Schleier. Sie wollte sich dem Laienorden der Dominikanerinnen anschließen. Doch erst als ihr Gesicht durch Pickel oder Blattern entstellt war, nahmen die verheirateten Frauen des Dritten Ordens das ledige Mädchen in ihre Reihen auf.

Im winzigen Hotelzimmer finde ich lange nicht in den Schlaf. Trotz der Aussicht durchs Fenster fühle ich mich beengt. Kleiner kann eine Zelle nicht sein, denke ich mir, und erinnere mich an eine Unterkunft in Siena, im Erdgeschoß eines Bed & Breakfast vor einigen Jahren, da war das Fenster des gassenseitig gelegenen Zimmerchens auch noch vergittert. Ein böses Gedenken. Mir wird kalt. Dann aber finde ich mich in einem Raum wieder, der sich, als zunächst kleiner Quader, zu dehnen beginnt. Dessen Wände hochwachsen. Nach und nach werden darauf Bilder sichtbar, Fresken und Holztafeln mittelalterlicher Maler, die ich in den letzten Tagen betrachtet habe, hier in dieser wunderbaren Stadt. Mittendrin erscheint eine junge Frau mit Schleier und weißer Lilie. Ihre Augen sind nur halb geöffnet. Voll Sanftmut blickt sie auf mich herunter. Auf einmal ist eine tiefe Ruhe in mir. Das Außen ist zu einem sicheren Innen geworden, zu meiner eigenen cella interna. Und was innen ist, kann mit mir zurückfahren nach Wien.

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