Hate-Radio-Bühnenstück im HAU 2 in Berlin, Dezember 2012

Daniel Seiffert

Der Soundtrack der Geschichte

Ein "Dimensionen"-Dreiteiler im Rahmen des Schwerpunkts "100 Jahre Radio".

Radio überwindet Grenzen - physische genauso wie ideologische. Als am 25. April 1974 im portugiesischen Radio das Protestlied Grândola, Vila Morena gespielt wird, verlassen die Militärs ihre Quartiere und marschieren nach Lissabon. Es ist das vereinbarte Zeichen für den Beginn der Revolution. Stunden später ist die verhasste, von Verhaftungen, Repressionen und Folter geprägte Diktatur zu Ende. "Es war der Beginn eines neuen Lebens", erinnert sich die Historikerin Irene Pimentel, damals 23 Jahre alt und politisch aktiv.

Als die Putschisten wichtige Radiosender besetzen, klebt sie gerade Plakate gegen den Kolonialkrieg in der Stadt. Den ganzen Tag über berichten Reporter des Privatsenders Rádio Renascença von den Ereignissen. Adelino Gomes ist einer von ihnen. Er trifft einen befreundeten Fotografen am abgesperrten Bereich der Regimegegner. "Sag denen, ich bin Journalist!", ruft er ihm zu. Adelino Gomes darf passieren, dabei "hatte ich nicht einmal einen Kugelschreiber dabei …". Seine Reportage geht in das kollektive Gedächtnis der Portugies:innen ein. Ohne das Radio als Werkzeug für Koordination, Mobilisierung und Information wäre die Nelkenrevolution vermutlich weniger erfolgreich gewesen.

50 Jahre Nelkenrevolution

PICTUREDESK.COM/AFP/PATRICIA DE MELO MOREIRA

Dass Radiowellen nicht so leicht aufzuhalten sind, machen sich ab den 1950er Jahren auch der US-Geheimdienst CIA und der US-Kongress zunutze, als Radio Free Europe (RFE) von München aus über den Eisernen Vorhang funkt. Ziel ist es, unzensierte und unabhängige Nachrichten in die kommunistischen Staaten im Osten Europas zu senden. In der damaligen Tschechoslowakei wird RFE von vielen Oppositionellen gehört -auch wenn die Regierung den Funkverkehr immer wieder mit Störsendern einzuschränken versucht. Der Journalist Petr Brod ist damals ein Bub, er erzählt, dass der Empfang auf dem Land - wo viele Menschen eine kleines Wochenendhäuschen hatten - viel besser war. Daher wurde fleißig am Häuschen und im Garten gearbeitet: "Und dabei konnte man sehr schön die westlichen Sender hören." Später dokumentiert RFE die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und die Samtene Revolution im Jahr 1989. Die tschechische Journalistin Lída Rakušanová erlebt diese Tage hautnah in der Münchener Zentrale. "Ich war am richtigen Tag am richtigen Ort und habe es nicht vermasselt. Das war ein gutes Gefühl", sagt sie.

Radio Free Europe, München

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1994, Ruanda: Im Radio spielt RTML coole Popmusik, der Moderator ist lässig und aufgekratzt. Der beliebte Sender wird im ganzen Land gehört. Doch zwischen Rock-Nummern und Blues-Balladen wird die Volksgruppe der Hutu aufgerufen, die Tutsi - die als "Kakerlaken" bezeichnet werden - umzubringen. Innerhalb weniger Wochen werden 800.000 Menschen getötet. Ancilla Umubyeyi, die sich zum Zeitpunkt des Genozids gerade in Österreich aufhält, verliert fast ihre ganze Familie. Ihre Eltern konnte sie schließlich Kigali, der Hauptstadt Ruandas, begraben: "Von meinem Bruder wissen wir nicht, wo er gestorben ist. Wir haben ihn nicht gefunden." Vor rund zehn Jahren beschäftigt sich Milo Rau, Theatermacher und Leiter der Wiener Festwochen, mit der ruandischen Geschichte. Er findet französische Transkripte der Radiosendungen und gestaltet daraus ein Theaterstück. Die Rollen der offen zu Gewalt aufrufenden Moderatorinnen und Moderatoren spielen Überlebende des Genozids. Das deutschsprachige Hörspiel, entstanden 2012, verstört durch seine Direktheit und zeigt die Notwendigkeit, Hetze und Hassrede in den Medien zu verhindern.

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