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Du holde Kunst
100. Geburtstag von Friederike Mayröcker
Dörte Lyssewski liest in "Du holde Kunst" Gedichte aus vier Zyklen.
19. Dezember 2024, 12:36
Sendungen
SO | 22. DEZ 2024 | 8:15 Uhr
Zum 100. Geburtstag von Friederike Mayröcker
„Wer Gedichte von Friederike Mayröcker liest, kann immer wieder neu beginnen und fragen: Was sind Worte? Kann auch fragen: Sind die Worte und Wörter wie Vögel in der Welt unterwegs? Sind sie in der Luft unterwegs oder sitzen kurz auf Ästen oder überall, aber überall kurz?“ So beginnt der Text Der Fink. Einführung in das Federlesen von Peter Waterhouse, in dem er vor allem Gedichte von Friederike Mayröcker analysiert - oder eigentlich: dichterisch befragt. Und tatsächlich scheint das Gedicht bei Mayröcker aus umherschwirrenden Blicken gemacht zu sein. Aber auch aus Lauten, die von einem Wort(teil) zum nächsten flattern - aus „fing“ wird etwa „Fink“ (wenn ich vor ihm gestorben wäre, 2001), oder aus „Genitalien“ werden „Lilien“ (Praterbesuch (Neurasthenie), 1981).
Wer je an einer Lesung von Friederike Mayröcker teilgenommen hat, weiß, wie Gedichte und Prosatexte, vorgetragen in ruhigem, ja monotonem Duktus, einen Saal voll Publikum in eine Art Trance fallen lassen können. Was die Hörerschaft in ihren Bann zog, waren weder Geschichten noch stringente Aussagen, sondern pure Sprachmagie; man wohnte einem Prozess bei, der Welt in Sprache verwandelt und sich daraus eine neue Welt erschafft.
Die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa überschreitend, fädelte Friederike Mayröcker in Montagetechnik Sprachbild an Sprachbild, verwandelte wie ein Wahrnehmungskatalysator Gesehenes, Empfundenes, Geträumtes in ein Textgewebe, nahm auch den Faden fremder Werke auf, zitierte, verfremdete, anverwandelte sich Poesie, Malerei und Musik.
Auch losgelöst von der charismatischen Person Mayröcker, lässt sich lesend oder dem Vortrag eines Schauspielers, einer Schauspielerin folgend, das Entstehen dieser Dichtung immer wieder neu erleben.
„In der Poesie ersteht jedes Wort auf. Die Poesie deutet die Welt, die zu erstarren und festzustehen droht, in Anfänge um. Die Poesie verwandelt die Welt in Quellen“, schreibt Peter Waterhouse über Mayröckers Dichtung. Die treffenden Worte eines Dichters über eine Dichterin. Die Literaturwissenschaft tut sich da schwerer, denn Poetik und Poesie fallen bei Mayröcker zusammen. Oder wie der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler es einmal formulierte:„Das Werk selbst ist das Werk über das Werk, oder anders: Es ist das fertige Werk und zugleich auch das Werk, das entsteht. Es schließt eine Schrift über sich selbst aus, es schottet sich hermetisch ab gegen alle Versuche, die dem Werk nachweisen wollen, dass es etwas andres sein könnte als es selbst.“
Statt Repräsentanz also totale Evidenz. Daher kann man dem Entstehen dieser Dichtung immer neu zuhören, dieser Aneinanderreihung von semantischen Verschiebungen, die einen Abstand zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein schaffen - den Geburtsort von Poesie.