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Diagonal
Das Ende des Westens
Warum schreiben jetzt so viele vom Ende des Westens? Ist es Mode oder Masochismus, Trumpismus oder Amerikahass? Spuken Oswald Spenglers Untergangsfantasien durch das Krisenhirn oder legen antiwestliche Trolle immer noch ein Schäuferl nach?
10. Oktober 2025, 11:39
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Diagonal | 11 10 2025
Wir sagen es gleich: Nichts Genaues weiß man nicht. Wissen Sie, was „der Westen“ ist? Der Begriff kann eine „geopolitische Formation“ meinen oder eine Kulturgemeinschaft, „eine Reihe moderner Nationalstaaten“ oder „wirtschaftliche Grundsätze“; er kann „Ideale der repräsentativen Demokratie“ bedeuten oder Säkularismus „auf dem Fundament einer jüdisch-christlichen Moral“ oder auch „eine psychologische Tendenz zum Individualismus“, schreibt Noíse Mac Sweeney in ihrem Buch Der Westen; die Historikerin selbst ist eine West-Ost-Mischung, das Kind chinesisch-irischer Eltern. Keines der aufgezählten Merkmale sei nur im Westen anzutreffen und keines von ihnen in allen Ländern des sogenannten Westens. Und die inkriminierten Insignien Coca-Cola, Burger und Supermarkt? Sind längst überall.
Von Plato zur Nato?
So weit, so entspannend. Nicht alles davon wird untergehen. Das Römische Reich ist erstens auch nicht gleich untergegangen. Zweitens ist es nicht restlos untergegangen, um vielmehr zu sagen: Es hat sich verwandelt, und es hat mit seinem Rechtswesen und seiner Reichsidee, der Verwaltung und Infrastruktur, seiner Sprache, Kunst und Architektur die Grundsteine gelegt für - jawohl - den Westen. Das mag ihn am meisten bezeichnen, so Sweeney: die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs. Aber die Erzählung der „westlichen Zivilisation“ sei falsch und verfälscht, „von Plato zur Nato“ spinne sich ganz sicher nicht ein einziger Faden.

1989: Ostdeutsche reisen in den Westen.
PICTUREDESK.COM/LEHTIKUVA/MARTII KAINULAINEN
Ein bissel Untergang
„Der Westen“, der Heimat und Hegemon geworden ist, Festung und Fata Morgana, unerschütterlich tönende Utopie europäischer Sonntagsredner und Lieblingspopanz autoritärer Geister – er verändert sich, wie Gebilde in anderen Weltgegenden. Er müsse sich auch verändern, sagen Menschen, die die „Idee des Westens“ im Westen umso mehr hochhalten, da sie hier proklamiert und an die Fahnen geheftet wird: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Demokratie, Menschenrechte.
Der Wandel muss aber nicht in Oswald Spenglers Dramatik vor sich gehen, in notwendigem Verfall und vorbestimmter Verlotterung. Und es werden wohl nicht gleichzeitig alle 1,2 Milliarden Menschen im Westen neue Cäsaren auf die Throne hieven (wollen).
„Ein bissel was geht immer“, schreibt der österreichische Philosoph Peter Strasser in seinem Essay Spenglers Visionen und denkt dabei nicht an das Motto der Heiratsschwindler, sondern an „die Stärke unserer Kultur“, die gerade darin liege, „sich dem kleinen Glück der gewöhnlichen Leute verpflichtet zu fühlen“. Ein bissel was geht immer, so Strasser, „ist jener Hintergrund, der unser Spätabendland zu einem Hotspot der Humanität, einem Brennpunkt der Menschlichkeit macht“. Das habe mit der „einzigartigen Verzahnung von Aufklärung, Humanismus und Christentum“ zu tun. Zwar seien die großen Geschichtsutopien zu Tode gedacht und politisch Lügen gestraft worden, aber „in ihnen keimte doch eine Hoffnung, die, bedenken wir es ernsthaft, uns weiterhin als zivilisierte Menschheitshoffnung eingesenkt ist“.
Man darf davon ausgehen, dass diese „Menschheitshoffnung“ universal und global ist - allen Tyrannen, Kriegen und Krisen zum Trotz. Darf man?
Gestaltung
- Andrea Hauer