Erwin Chargaff

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Im Gespräch | 07 01 2010

Erwin Chargaff

"Diese Welt ist uns nur geliehen". Konrad Franke spricht mit Erwin Chargaff, Biochemiker und Wissenschaftskritiker.

Erwin Chargaff wurde im Jahr 1905 im ukrainischen Czernowitz, damals noch Österreich-Ungarn, geboren. In Wien besuchte er das Gymnasium, genauer: das Wasagymnasium im 9. Bezirk. Danach beschloss er, die ungewöhnliche Fächerkombination Chemie und Literatur zu studieren. Fast acht Jahre lang besucht der junge Chargaff die Vorlesungen eines Mannes, den er später einmal als "mein einziger Lehrer" bezeichnen sollte: Karl Kraus.

Im Jahr 1928 geht Chargaff an die Yale Universität, 1930 nach Berlin. Nach dem Reichstagsbrand nimmt er eine Stelle in Paris an, um von dort nach New York zu emigrieren. "Hitler", sagte er damals, "Hitler hat mich zum Juden gemacht." In New York forscht er bis 1974 an der Columbia Universität. Schon 1945 entdeckt er den entscheidenden Basenpaar-Mechanismus der DNA, ohne den die Entschlüsselung der menschlichen Erbsubstanz nicht möglich gewesen wäre; eine Entdeckung - wie damals die Fachwelt urteilte -, die so bedeutsam war wie die Arbeiten von Charles Darwin und Gregor Mendel.

1978, vier Jahre nach seiner Emeritierung, verfasst er seine Biografie "Das Feuer des Heraklit", in der er mit Nachdruck die Wissenschaften attackierte. Der große Essayist warnt in mehr als einem Dutzend Büchern vor den Folgen der Genforschung. "Diese Welt", schrieb Chargaff, "ist uns nur geliehen - haben wir das Recht, unwiderruflich der evolutionären Weisheit von Jahrmillionen entgegenzuwirken, um den Ehrgeiz und die Neugierde einiger Wissenschafter zu befriedigen?"

Chargaffs zentraler Vorwurf an die Adresse der Wissenschaft lautet, die Natur als eine Art Krankheit zu betrachten, die korrigiert gehöre. Gleichzeitig machte sich Chargaff schwere Vorwürfe, mit seiner Arbeit "den biologischen Brandstiftern das Zündholz gereicht" zu haben.

In einem seiner letzten Interviews meinte der Biochemiker: "Ich höre jetzt auf zu denken. Schauen Sie, wie viele Spezies, Rassen oder Tierarten ausgestorben sind. Und die Natur wird sich auch des Menschen entledigen. Die Natur ist größer als der Mensch, sie braucht keine Kenntnis von ihm zu nehmen. Die Natur geht einfach weiter."

Das Gespräch, das Konrad Franke mit dem damals 85-jährigen Erwin Chargaff im November 1990 führte, haben wir dem Archiv von Radio Bremen entnommen.

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