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Im Gespräch | 12 11 2009
Günter Wallraf
"... man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, man muss sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden." Michael Kerbler im Gespräch mit Günter Wallraff, Enthüllungsjournalist.
24. Oktober 2025, 16:22
Er schlüpfte in die Rolle des türkischen Leiharbeiters Ali, bei "BILD" war er Hans Esser, seine Reportagen über Arbeitsbedingungen in deutschen Industriebetrieben rüttelten auf, die Schilderung seines Daseins als Obdachloser bei Minus 20 Grad Celsius zeigte den Wohlfahrtstaat Deutschland wirklich aus der Perspektive von "ganz unten". Sein Undercover-Journalismus fand Millionen Leser und Leserinnen, im Schwedischen entstand das Kunstwort "wallraffa" für die Art und Weise, wie Journalisten in Wallraff-Manier an Informationen gelangen.
Der heute 67-jährige Kölner könnte sich längst zu Ruhe setzen. Das ist Wallraffs Sache gar nicht. Seit einiger Zeit ist Wallraff wieder "undercover" unterwegs. Als "Michael G." recherchierte er den Alltag in Callcentern - und berichtete darüber ausführlich in der ZEIT. Das Echo auf seine Reportage war enorm: Zahlreiche Callcenter-Mitarbeiter/innen meldeten sich, die dem Journalisten von eigenen Erlebnissen berichteten.
Die nächste Rolle spielte er als Niedriglohnarbeiter in einer Backwarenfabrik, die die Handelskette "Lidl" beliefert. Wallraff arbeitete bis zur Erschöpfung, er erlitt mehrfach - wie auch manche seiner Kollegen - Brandverletzungen. Dem Lidl-Aufsichtsratschef Klaus Gehrig schlug Wallraff in einer TV-Konfrontation vor, gemeinsam mit ihm zwei Tage lang unter diesen "Straflager-Bedingungen" zu arbeiten - was dieser ablehnte. Und im Winter 2008/2009 hat Günter Wallraff am eigenen Leibe erfahren, wie Obdachlose in Deutschland leben. Er quartierte sich in Obdachlosenheimen ein und verbrachte die kältesten Tage des Winters auf der Straße.
Michael Kerbler, der Günter Wallraff erstmals 1985 traf, als dieser enthüllte, für Monate als türkischer Leiharbeiter Ali "ganz unten" gelebt zu haben, diskutiert mit dem Enthüllungsjournalisten über die legalen und illegalen Arbeitsbedingungen in Deutschland und die Folgen für die Gesellschaft. Wallraffs Fazit: Im reichen Deutschland leben immer mehr Menschen "ganz unten", und das droht die Gesellschaft zu zerreißen.
