Christoph Schlingensief

APA/DPA/INGO WAGNER

Im Gespräch | 09 07 2009

Christoph Schlingensief

"So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!"
Michael Kerbler im Gespräch mit Christoph Schlingensief, Aktionskünstler, Film-, Theater- und Opernregisseur

Der französische Kunsttheoretiker Jean-Luc Nancy, der vor acht Jahren ein fremdes Herz eingepflanzt erhielt und wenig später an Krebs erkrankte, sagte kürzlich: "Ich bin die Krankheit und die Medizin, ich bin die kanzeröse Zelle und das verpflanzte Organ, ich bin die das Immunsystem schwächenden Kräfte und deren Palliative."

Das Zitat ist als Beleg dafür zu lesen, wie sehr Kunstschaffende in Grenzsituationen versuchen, ihre Souveränität zu verteidigen, und nicht in die Welt geworfen, dem Schicksal oder fremden Mächten ausgeliefert sein wollen. Krankheit, zumal eine Krebserkrankung, die im Bewusstsein der meisten Menschheit noch immer als Todesurteil betrachtet wird, stellt aufgrund der begleitenden Therapien und Operationen eine Extremform des Souveränitätsverlustes dar.

Christoph Schlingensief, der Künstler, Film-, Theater- und Wagner-Opernregisseur, wurde im Jänner 2008 schlagartig mit der Diagnose Lungenkrebs in eine solche Souveränitätskrise gestoßen. Wer - fragt der bis dahin Souveräne - hat Schuld? Und wie wird dieses Weiterleben aussehen, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Fragen stellen sich, brechen aus Schlingensief heraus, der sich kurz davor noch in der Mitte des Lebensalters wähnte.

"Und dann brach plötzlich dieses Weinen aus, kein Weinen, wo man sich bemitleidet, sondern so ein unglaublich trauriges Weinen, so ein Trauerweinen, wo man eine Ahnung davon kriegt, dass das alles ja nicht immer so sein wird, dass das ja vorbeigeht. Und ich lebe doch so gerne."

Wenige Tage nach der Diagnose begann Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott - fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnete.

In einem Tagebuch beginnann Christoph Schlingensief seine Stunden, Tage und Wochen seit der Diagnose der Krebserkrankung festzuhalten. Er entschloss sich, dieses Tagebuch in Buchform zu veröffentlichen und damit die Öffentlichkeit teilhaben zu lassen an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott und nach der Liebe zum Leben. Ein Lungenflügel musste entfernt werden, Chemotherapie und Bestrahlungen folgten, die Prognose war ungewiss - für Schlingensief ein Alptraum der Freiheitsberaubung.

Das Gespräch, das Michael Kerbler mit Christoph Schlingensief führen konnte, führt von Richard Wagners fragwürdiger Gleichung: "Liebe plus Tod gleich Erlösung" über die ReadyMadeOper "Mea Culpa" am Wiener Burgtheater bis hin zu sehr persönlichen Gedanken des Künstlers, die - trotz allem - in dem Satz münden: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!"

Christoph Schlingensief verstarb 2010 in Berlin.

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