Gipfel-Sieg: Der Wille versetzt Berge - zum Hören, Gerlinde Kaltenbrunner & Zuhal Soyhan.

Willkommen bei „Gipfelsieg: Der Wille versetzt Berge - zum Hören“, dem Podcast-Format der gleichnamigen ORF Fernsehsendung. In jeder Folge begegnen sich zwei Menschen auf Augenhöhe, die auf unterschiedlichste Weise schwere und ehrgeizige Lebensabschnitte zu einem persönlichen Gipfelsieg gemacht haben. Die Sendereihe wurde von 2012 bis 2024 mit insgesamt 40 Folgen auf ORF III ausgestrahlt. Im Podcast „Inklusion gehört gelebt“ erscheint jetzt alle zwei Wochen eine Folge zum Nachhören. Moderiert wird die Reihe von Barbara Stöckl. Initiatorin des Formats ist Marianne Hengl, Obfrau und Gründerin des Vereins Roll on Austria. Sie hat zum Auftakt ein paar persönliche Worte vorbereitet.

Stöckl: Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Ich freue mich sehr, Sie heute zu einer weiteren Folge unserer Feiertagsgesprächsserie Gipfelsieg auf ORF3 begrüßen zu dürfen. Hier in der wunderbaren Bergkulisse im salzburgischen Lofer am Loderbichl treffen heute zwei besondere Persönlichkeiten aufeinander. Zum einen die Journalistin Zuhal Soyhan, die die Glasknochenkrankheit hat und deshalb im Rollstuhl sitzt. Und zum anderen die Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, die als erste Frau alle Achttausender der Welt ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff erklommen hat. So, du bist Fernsehjournalistin und seit vielen Jahren Redakteurin einer Sendung, die heißt Gipfeltreffen. Prominente besteigen gemeinsam mit dem Moderator Werner Schmidbauer jeweilige Gipfel und Berge. Das heißt, du weißt aus journalistischer Sicht, was es heißt und was es mit Menschen tut, auf den Berg zu gehen. Was hat sich da bisher dir erschlossen?

Soyhan: Also es muss einfach fantastisch sein, ganz oben anzukommen nach einer körperlichen Anstrengung. Und es muss wohl so sein, dass man da oben wirklich sowas wie eine Sinneserweiterung irgendwie erfährt. Es muss so sein, dass man sich selbst ganz als unwesentlichen Teil dieser Erde irgendwie empfindet, dass es einen sehr erdet und dass man vor allem, wenn man gläubig ist, dem Gott sehr nahekommt oder dem Herrgott oder seinem Schöpfer, sage ich mal. Verarbeite ich natürlich jetzt nur mal journalistisch, aber es imponiert mir schon immer sehr, wenn Menschen ein Feuer haben für etwas. Weil ich das selbst wahrscheinlich in der Art niemals erleben werde.

Stöckl: Du warst schon einmal oben am Berg, am Rauschberg. Wie bist du da raufgekommen und wie war dieses Bergerlebnis für dich?

Soyhan': Vor ein paar Jahren war ich mit einem Freund von mir, der hat mich mal ganz raufgeschleppt in die Weißseespitze. Das sind ja schon mal so gute 3000 Meter hoch. Da hatte ich dann in etwa eine Ahnung. Ich habe mir gedacht, wer kommt auf die verrückte Idee, einen Rollstuhlfahrer über irgendwelche schmalen Pfade zu schieben. Da habe ich gedacht, okay, ich vertraue ihm jetzt einfach mal. Am Anfang war es unheimlich stressig, weil ich natürlich keinerlei eigene Verantwortung mehr für mich hatte, sondern total darauf angewiesen war, dass der nicht stolpert, dass der den Stein rechtzeitig sieht und ich nicht dann rechts runter guckele. Aber als ich dann festgestellt habe, Ja, ich vertraue da jetzt einfach mal drauf, weil sonst bin ich jetzt nicht oben auf diesem Berg. War das dann schon annähernd so, dass ich gedacht habe, Mensch. Das ist schon so, da bist du da oben und denkst dir, was spiele ich eigentlich für eine Rolle auf dieser Welt. Das ist schon sehr schön.

Stöckl: Gerlinde, du bist die erste Frau, die alle Achttausender dieser Welt ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff erklommen hat. Was ist denn für dich heute jetzt noch Antrieb, raufzugehen?

Kaltenbrunner: Rekorde sind es definitiv keine mehr, die waren es aber auch vorher nicht. Die waren es vorher nicht, das muss ich wirklich betonen, das war es nicht, auch wenn das nach außen hin oft so gewirkt hat, aber mich haben die Berge von klein auf begeistert. Ich komme aus einem kleinen Dorf, ein bisschen enges Teil und ich wollte halt einfach immer schon rauf, um da drüber zu schauen und das ist von klein auf letztendlich gewachsen und daraus ist für mich die Begeisterung, die Leidenschaft entstanden und ich glaube, wenn man das, also mir geht es halt so, das habe ich in mir und das wird mich sicher ein Leben lang begleiten. Also die Berge werden immer für mich ein ganz wichtiger Anker sein. Es wird so sein, dass ich irgendwann wahrscheinlich auch nicht mehr rauf kann. Altersbedingt, wie auch immer, das weiß ich nicht. Aber jetzt freue ich mich einfach jeden Tag darüber, wo ich am Berg sein kann.

Stöckl: Aber versuchen wir, dieses Kindheitsgefühl nochmal herzustellen. Es war ja der Pfarrer, der die Sehnsucht geweckt hat, der diese Bergwelt erschlossen oder zumindest einmal eröffnet hat und dich neugierig gemacht hat. Warum wolltest du rauf?

Kaltenbrunner: Mich rufen die Berge, sagen manche. Andere Leute gibt es, die sagen, ich ruf und ruf, mir ruft nichts. Manche andere Leute gibt es, die sagen, ich hoch und hoch, mir ruft nichts. Ich habe von klein auf schon einen Bewegungstraum gehabt, das muss ich schon sagen, also mich immer sehr gerne bewegt. Und die Berge, die haben mich einfach angezogen. Irgendwie, wir waren im Tal herunten, die rundherum, die großen Berge, 2000 Meter hoch, über 2000 Meter hoch. Und ich wollte da aufhören, um zu wissen, was ist eigentlich dahinter. Als kleines Dirndl oder junger Mensch hat man seine Vorstellungen. Das hat mich einfach begeistert. Nicht nur oben stehen und drüber schauen, sondern am Weg schauen. Es war nicht nur so, dass wir raufgegangen sind und erst oben links und rechts geschaut haben, sondern wirklich am Weg schon viel beobachtet. Das interessiert einen ja eh alles, als kleines Kind sowieso. Und der Herr Pfarrer. der hat uns wirklich die Fauna, Flora näher gebracht. Und das war immer eine Riesenfreude, wenn wir unterwegs sein haben können.

Stöckl: Zu, du hast die Glasknochenkrankheit. Was ist das, was heißt das?

Soyhan: Das heißt, dass mir einfach ein Stoff, also das Kollagen in den Knochen fehlt und da die Knochen sehr leicht brechen. Also das heißt, von daher wurde ich als Kind schon immer sehr in Warte gepackt und durfte mich auch im Mords möglichst nicht bewegen. Und da sind natürlich die Möglichkeiten eher begrenzt, sportlich sich irgendwie zu betätigen, schwimmen ginge, wenn ich, wie gesagt, nicht eher tendenziell faul wäre.

Stöckl: Aber die Gerlinde hat gerade erklärt, sie hat als Kind so einen Bewegungsdrang gehabt und der hat ihr letztendlich auch die Bergwelten eröffnet. Wie war das für dich als Kind? Versteht man das als Kind, dass man jetzt nicht laufen soll, weil man vielleicht stolpern könnte und dann würde gleich ein Knochen brechen? Dass man nicht spielen darf, weil das zu riskant ist? Wie bist du damit umgegangen?

Soyhan: Wenn da ständig jemand zuruft, nicht so schnell, sonst tust du dir weh. Und weh weiß man, das will man nicht haben. Sonst brichst du dir was. Wenn du das dauernd hörst, dann denkst du dir, okay, reduziere mal deinen Bewegungsdrang so sehr. Ich habe es halt irgendwie anders ausgelebt. Ich habe nur viel gequatscht. Ich habe die Leute dann zugetextet oder solche Sachen gemacht. Aber da wirst du so konditioniert, dass Bewegung für dich schlecht ist.

Stöckl: Die Glasknochenkrankheit hat zur Folge, du hast es gerade gesagt, dass die Knochen oft brechen. Das ist nicht nur das Risiko, mit dem du lebst, sondern das ist eine Tatsache. Kannst du uns schildern, wie oft das passiert oder in welchen Situationen das geschieht?

Soyhan: Bei 100 haben wir aufgehört zu zählen bei den Knochenbrüchen. Der Vorteil bei den Mädchen ist, wenn sie in die Pubertät kommen, festigen sich die Knochen eine Zeit lang, bis sie dann, wenn sie dann älter werden, die Mädels, dann wieder losgeht mit den Wechseljahren. Dann kann es dann wieder losgehen mit den Knochenbrüchen. Ich muss halt aufpassen, dass ich nicht, wenn ich auf den Boden falle oder so, dann kann es sein, dass ich mir was breche. Als Kind hat es gereicht, dass ich mich nur angestrengt habe, vor irgendwas gefürchtet habe. Dann ist mal ein Knochen einfach ab. Und das ist etwas. Das ist nicht schön, aber das gehört dann einfach auch irgendwie zu einem. Und man lernt auch, mit Schmerzen umzugehen. Und für mich war immer so, ich wusste immer so, ja, so drei Wochen tut das richtig scheußlich weh und dann wird es wieder besser. Und die habe ich halt dann abgewartet.

Stöckl: Dieses Risiko, dass du auch eingehst mit extremen Bergbesteigungen, das weiß man, wenn man sich das ausmalt, dass das zur Folge haben könnte ganz schlimme Unfälle, es könnte aber auch zur Folge haben Verletzungen. Es könnte auch die Möglichkeit einer körperlichen Behinderung zur Folge haben. Sind das Gedanken, die man sich macht oder darf man sich die gar nicht machen?

Kaltenbrunner: Wir sprechen natürlich vor jeder Expedition darüber, dass etwas passieren kann. Wir wissen, dass wir ein gewisses Risiko eingehen, aber wir versuchen uns wirklich bestmöglich darauf vorzubereiten, das Risiko so gut es geht zu minimieren. Und das Restrisiko, das nehmen wir bewusst in Kauf. Reden wir im Vorfeld darüber, sollte was passieren, was wir zu tun haben, da kann man das alles nüchtern durchsprechen, natürlich. Und am Berg selber ist es aber dann so, dass wir das völlig außen vorlassen, uns wirklich auf das konzentrieren, was da vor Ort vor uns liegt. Denken da jetzt nicht ständig dran, ich darf nicht abstürzen, sonst bin ich tot. Das lassen wir da außen vor. Wir sind ja eh sicher unterwegs. Wir sichern uns gegenseitig in den schwierigen Passagen. Und passieren kann immer und überall was, nicht nur beim Bergsteigen. So banal das klingt, aber das muss ich einfach dazu sagen.

Stöckl: Welche Form von medizinischem Rüstzeug hat man mit am Berg?

Kaltenbrunner: Ich habe immer eine Apotheke mit dabei, eine größere Apotheke, die dann im Basislager steht. Und Querbeet, angefangen vom Husten über Durchfallmedikamente, also was halt so auftreten könnte. Und am Berg selber haben wir aber dann nur ganz kleine Notfallapotheken mit dabei. Wir tragen unser Zeug selber, also wir schauen auch sehr aufs Gewicht. Und da haben wir was im Rucksack, falls jemand ein Hirnödem bekommen sollte oder ein Lungenödem, also höhenkrank werden sollte oder schneeblind, falls er die Brillen verliert, wie auch immer. Und ein bisschen Verbandsmaterial, genau, das ist immer im Rucksack drin. Das habe ich auch bei uns auf den Bergen immer im Rucksack.

Stöckl: Dir kommt am Berge ein bisschen die Rolle der Krankenschwester zu und das mit gutem Grund, weil du ihr gelernte Krankenschwester bist.

Kaltenbrunner: Genau.

Stöckl: Nimmst du dann auch am Berg solche Tätigkeiten?

Kaltenbrunner: Ja, das steckt auch in mir drin. Also ich würde nicht sagen, Helfersyndrom, aber ich kümmere mich dann schon auch gerne um andere. Also oft schon beim Anmarsch, wenn man vereinzelt durch Dörfer durchkommt. Wir sind in Ländern unterwegs, wo sehr arme Verhältnisse vorherrschen. Also da habe ich dann oft schon die Möglichkeit, irgendwie zum Einsatz zu kommen als Krankenschwester. Und am Berg war es auch schon manchmal notwendig und zum Glück habe ich da helfen können.

Stöckl: Zu, Krankenhaus war ja für dich lange Zeit dein Zuhause, kann man das so sagen?

Soyhan: Ja genau, ich bin ja in der Türkei geboren und danach, meine erste Station war dann drei Jahre Krankenhaus. Und da lag ich dann und für mich war das dann irgendwann total normal. Ich dachte, das ist meine Familie.

Stöckl: Der Weg, der dich dorthin geführt hat, war eine Katastrophe, die rückblickend gesehen vielleicht ein Glücksfall war. Du bist bei einem Erdbeben in der Türkei mit vielen anderen Menschen verschüttet worden und erst nach den Rettungs-, Bergungs- und Behandlungsmaßnahmen dann eben nach Deutschland zur Behandlung gekommen, wo dann eben auch in Folge die Glasknochenkrankheit diagnostiziert wurde. Ein Glücksfall für dich?

Soyhan: Absoluter Glücksfall, denn ich glaube, mit dieser Behinderung hätte ich in der Türkei wirklich ein freudloses Leben gehabt. Ich hätte nicht in die Schule gehen können und all sowas, weil meine Eltern wären damit total überfordert gewesen. Und es ist ja heute leider immer noch so, dass behinderte Menschen, gerade in der Türkei, noch nicht wahrgenommen werden von der Gesellschaft. Das fängt jetzt ganz langsam an, aber da ist noch ein ganz, ganz weiter Weg dorthin. Insofern hatte ich da in zweifacher Hinsicht Glück, dass ich einmal das Erdbeben überlebt habe und dann tatsächlich nach Deutschland gebracht wurde.

Stöckl: Du schreibst in deinem Buch, das den tollen Titel „Ungebrochen“ hat, dass es dann sehr wohl eine Zeit deines Lebens gab, wo du sehr gelitten hast unter deiner Situation, dich nicht angenommen gefühlt hast, sogar an Depressionen gelitten hast. Was hat dir dann in dieser Situation die Kraft gegeben, zu der Kämpferin zu werden, die du heute bist?

Soyhan: Ich habe einfach nur festgestellt, dass ich bis dahin einfach fremdbestimmt gelebt habe. Also dass es immer Leute gab, die wussten, was gut für mich ist, was ich kann, was ich nicht kann. Und dann habe ich mir gedacht, naja, also wenn du unter Umständen recht alt wirst, dann hast du ein ganzes Stück Leben vor dir und das willst du nicht von irgendjemandem bestimmen lassen. Und mir war schon klar, dass das sehr schwer ist, gerade als behinderter Mensch, sich da frei zu strampeln. zu sagen, ich probiere es jetzt, egal, ob ich es kann oder nicht kann. Aber ich muss es ja mal probiert haben, um hinterher zu sagen, ich bin gescheitert und dann kann ich immer noch reumütig in den Schoß dieser ganzen Aufpasser, Erzieher oder sonst was zurückkehren. Ich wollte, das war ein sehr ehrgeiziges Motiv, ein verdammt gutes Leben führen. Ich wollte selbst bestimmen, wenn ich Mittag esse, ob ich Mittag esse, welchen Beruf ich ergreife. Und wenn die sagen, du kannst es nicht, möchtest du es zumindest probiert haben. Und das war so mein Ding, zu sagen, ich habe so viel Leben vor mir. Das kann ich beim besten Willen nicht von irgendjemandem bestimmen lassen.

Stöckl: Das klingt jetzt so, als hätte es da keine Hürden und Hindernisse gegeben. Wie oft hast denn du gehört, Sie wollen zur Journalistenschule gehen?

Soyhan: Ständig. Ständig habe ich gehört: was, das kannst du nicht, bleib mal wieder normal. Siehst du denn nicht, wie du aussiehst? Kennst du auch andere Behinderte? Es ging ja schon damit los, dass ich noch nicht mal eine vernünftige Schulausbildung machen konnte. Ich war 18 Jahre alt, als ich aus diesem Heim rauskam, und hatte Hauptschulabschluss. Nichts gegen Hauptschulabschlüsse, aber ich glaube schon, dass Kinder heutzutage gefördert werden. Da guckt man, wo sind die Begabungen, was kann dieses Kind? Und das war bei uns eben überhaupt nicht der Fall. Dann habe ich mit 18 nochmal angefangen, Schule zu machen. Ging dann nochmal in die siebte Klasse Realschule. Und das ist für jemanden, wo die Freunde schon arbeiten. Freunde hatte ich ja da überhaupt gar keine. Ich habe mir gerade an meine Geschwister schon ihr erstes Geld verdient haben. Und dann sitzt du mit 18, 19 noch in der siebten Klasse. Das ist oberpeinlich. Aber ich wusste, ich muss da durch. Sonst sitze ich ein Leben lang auf dem Sofa meiner Eltern.

Stöckl: Das verbindet euch ja in gewisser Weise, dieses sehr fokussiert auf ein Ziel zu sein und durchaus auch Hürden und Hindernisse, auch wenn die unterschiedlich sind, zu überwinden. Du warst Krankenschwester, hast diesen Beruf aufgegeben. Da wird es ja vielleicht auch viele gegeben haben, die gesagt haben, ja warum tust du das? Das ist zwar ein sehr beschwerlicher, aber ein sicherer Beruf heutzutage.

Kaltenbrunner: Natürlich, also das war schon so, dass ich da bei vielen auf Unverständnis gestoßen bin. Aber bei mir war es eben auch so, ich habe mir gedacht... In meinem ursprünglichen Beruf als Krankenschwester werde ich immer wieder zurückkehren können. Ich habe nicht Angst davor gehabt, irgendwann ohne Job da zu stehen. Und habe mir eben damals schon gedacht, jetzt wage ich den Schritt und versuche mich mit dem Bergsteigen selbstständig zu machen. Und glücklicherweise ist das gelungen.

Stöckl: Aber du hast lange Zeit auch immer wieder deine Knochenbrüche verheimlicht, trotz großer Schmerzen. Warum?

Soyhan: Weil ich eigentlich immer einen Anschiss gekriegt habe, wenn ich mir was gebrochen habe. Weil es dann hieß, jetzt müssen wir uns wieder um dich sorgen, jetzt müssen wir uns wieder um dich kümmern. Jetzt haben wir wieder so viel mit dir zu tun. Und ich wollte das einfach nicht. Ich wollte nicht irgendwie dafür auch noch zu diesen Schmerzen, die ich habe, auch noch einen Anschiss kriegen. Und das war halt einfach ein bisschen unangenehm. Deswegen habe ich gedacht, jetzt sage ich erstmal nichts. Vielleicht halte ich es aus.

Stöckl: Wie geht das? Wie funktioniert das? Das müssen ja höllische Schmerzen sein, oder?

Soyhan: Das sind schon höllische Schmerzen. Ich habe mich dann noch weniger bewegt als vorher und versucht, diesen Schmerz irgendwie vielleicht kopfmäßig zu steuern und zu sagen, das vergeht wieder, das vergeht wieder, das vergeht wieder. Aber natürlich, wenn dann der Arm sich verbiegt oder anschwillt, dann kann es das natürlich, oder irgendwie merkt man es ja, wenn jemand... Wenn ein Kind dann dasitzt und umfasst.

Stöckl: Aber dieses, wie geht das, wie funktioniert das, das denken wir uns, wenn wir deine Touren begutachten auch ganz oft. Und was zu diesem Fokussieren des Zieles und zu dieser mentalen Kraft gehört, das ist natürlich auch euer Umgang mit Rückschlägen, mit Momenten des Scheiterns. Gerlinde, nehmen wir mal den K2, weil wir den selber alle so mitverfolgt haben. Ein Berg, der dich gefordert hat, wo du oft zurückweichen musstest. Hat das medial so ausgeschaut, als wäre das jetzt immer die große Katastrophe? Oder ist Scheitern am Berg eigentlich was ganz Montages?

Kaltenbrunner: Scheitern am Berg, das habe ich ja nie so gesehen. Immer dann, wenn ich umgedreht habe am K2 auf der Südseite, waren das sechs Versuche bei drei Expeditionen. Da habe ich mich entschieden zur Umkehr, weil das Risiko einfach zu groß war. Und immer wenn ich zurückgekommen bin ins Basislager mit meinen Teamkollegen, mit meinem Partner, dann war das für mich trotzdem ein schöner, erfolgreicher Abschluss. Das war für mich kein Scheitern, das ist außen vielleicht so wahrgenommen worden. Das einzige Mal, wo ich wirklich... wirklich von mir selber sagen kann, ich bin gescheitert am Berg. Das war, wie eben ein Freund von mir, der Frederik, abgestürzt ist, ohne ihn zurückzukehren. Da habe ich echt so vom Gefühl her gespürt, jetzt bin ich gescheitert. Mal war das immer für mich passend. Also ich habe eine Entscheidung getroffen, zu der stehe ich voll und der Berg, der steht noch länger. Und vielleicht habe ich wieder einmal die Möglichkeit, da hin zurückzukehren. Und habe mir da eigentlich keinen Druck gemacht.

Stöckl: Da braucht es Geduld, da braucht es viel Kompetenz und Know-how natürlich. Da braucht es aber eine ungemeine mentale Stärke.

*Kaltenbrunner: Ja, schon natürlich. Der Kopf, der spielt, wie man sieht, in vielen Bereichen eine ganz große Rolle. Und natürlich auch beim Bergsteigen, wenn es ungemütlich wird, wenn es voll anstrengend wird. Aber es ist halt da der große, wesentliche Unterschied zu dir. Es ist halt Schmerzen. Wir machen das alle freiwillig. Wir gehen da hin, wir wollen den Berg besteigen und es ist nicht so, dass ich sage, ich erleide da jetzt volle Schmerzen. Das ist schon nochmal ganz was anderes, dass du die Zehen so zusammenbeißen musst, um einen Knochenbruch zu verheimlichen. Das ist unfassbar eigentlich.

Stöckl: Aber ich habe vorher die Zu nach ihrer größten körperlichen Anstrengung gefragt, was war denn die deine? Weil diese Szene zusammenbeißen und vielleicht in Situationen sich wiederfinden, wo man sich denkt, ich kann einfach nicht mehr. Den nächsten Schritt packe ich nicht mehr. Gibt es das nicht in der Todeszone, wo die Luft so dünn ist, dass man kaum atmen kann, wo das Gesicht wehtut, weil es minus 40 Grad hat und der Wind in Sturmstege bläst?

Kaltenbrunner: Also das, ich kann nicht mehr, jetzt geht es nicht mehr, das habe ich nie aufkommen lassen, weil das ja bedeuten würde, dass ich nicht mehr zurückkomme. Ich habe schon immer versucht, mich das so einzuteilen, dass sich das immer ausgeht, dass ich wieder gut nach unten komme. Das hat oberste Priorität und waren natürlich viele sehr, sehr anstrengende, schwierige Momente. Körperlich anstrengend, das ist das eine. Und das andere natürlich auch oft mental wirklich im Grenzbereich unterwegs zu sein. Und das halt immer dann eigentlich mental hat mich am meisten immer gefordert, wenn eben ein Freund von uns einmal höhenkrank geworden ist, wo wir wirklich um sein Leben letztendlich auch gekämpft haben, da komme ich wirklich auch in einen psychischen Grenzbereich.

Stöckl: Wie war die Situation damals im Todesfall von Friedrich Eriksson? Wie schwer war das, mental zu verkraften? Weil man ja dann eben trotzdem, unter Anführungszeichen, egoistischer Weise um sich und sein Leben...

Kaltenbrunner: Also da muss ich dazu sagen, ich bin natürlich nicht weiter aufgestiegen. Das wäre für mich überhaupt nicht mehr in Frage gekommen, aber wir waren auf 8300 Meter oben. Ich habe jetzt, ja, egoistisch, ich habe halt schauen müssen, dass ich selber jetzt irgendwie da noch runterkomme. Ich habe gewusst, für den Frederik gibt es keine Hilfe mehr. Ich habe erst geglaubt, ich kann ihn noch wo finden, vielleicht ist er nur verletzt und ich kann ihn irgendwie mit runterbringen, aber er ist über 1000 Meter abgestürzt und da war für ihn keine Hilfe mehr da. Und wie ich das dann erfahren habe über den Funk von meinem Mann. Vom Ralf war dann natürlich nur dieser Überlebenstrieb da, zu schauen, dass ich da jetzt selber irgendwie runterkomme. Irgendwo die Konzentration so gut aufrechtzuerhalten, dass ich da wieder absteigen kann. Der Körper funktioniert dann einfach. Ich war dann in Sicherheit irgendwann um 11 Uhr am Abend unten beim Einstieg und da habe ich dann gespürt, hat wirklich alles komplett ausgelassen. Da ist das dann erst alles auszubrechen, was da tagsüber in der Früh oben passiert ist.

Stöckl: Das ist eine extreme mentale Situation, aber da hat ja der Körper sozusagen auch entsprechende Mechanismen. Das ist ja auch eine hormonelle Frage. Da werden ja ungemeine Hormone wie Endorphine oder vor allem auch Adrenalin ausgeschüttet.

Kaltenbrunner: Ja, natürlich. Und was auch ganz wichtig ist, dass wirklich die ganzen Bewegungsabläufe, das Klettern, rückwärts absteigen, wie auch immer, dass das automatisiert ist. Das war dann so, dass ich da wirklich einfach nur funktioniert habe.

Stöckl: Inwieweit waren extreme Situationen des Scheiterns oder Rückschläge für dich und dein Leben und deine Entwicklung zu so einer herausragenden Persönlichkeit ein Antrieb?

Soyhan: Es gab oft Situationen, wo ich gedacht habe, ich lasse es jetzt, weil die anderen haben jetzt alle recht, dass ich das alles nicht schaffe. Aber andererseits, ich habe ja nur mein eigenes Leben und nur dieses eine. Das war dann für mich schon immer wieder anspannend zu sagen, wenn das nicht geht, dann muss es irgendwas anderes geben. Also auch für mich muss das Leben mir irgendwas bereithalten oder mir irgendwas mitgegeben haben, dass ich damit was anfangen kann. Und ich habe halt einfach ständig auf der Suche. So eine starke Behinderung ist nicht einfach. Und bis heute habe ich da so meine Probleme und Kämpfe und finde es an manchen Tagen ehrlich. Und es ist jetzt mal so zu sagen, Mist, dass ich diese Behinderung habe. Dann gab es so Phasen, da habe ich mich mit der Behinderung einfach nicht mehr beschäftigt, weil ich keine Zeit hatte, weil andere Dinge einfach sehr wichtig waren. Warum ist das so? Warum schaffen es nicht mehr Menschen mit Behinderung, in so exponierten Jobs zu kommen, wie ich es geschafft habe? Und das ist für mich dann schon jetzt so, wo ich dann auch versuche, junge Menschen irgendwie anzutreiben mit den Behinderten und zu sagen, lass dir doch das nicht erzählen, kämpfe und du schaffst das. Und dann ist es natürlich auch so, dann sehe ich oft Behinderte, die dann einfach so dasitzen und völlig resigniert haben. Und ja, das tut mir dann echt richtig weh, weil ich denke, da steckt so viel Potenzial in allen Menschen. Und wir nehmen uns einfach raus zu sagen, wir fördern nur die, die nicht behindert sind und die Behinderten, das lassen wir so. Und vielleicht war es auch so, das zu sagen, ich zeige euch jetzt mal, wie gut ich bin.

Stöckl: Das wurde eingangs gesagt, manche erzählen da oben, dass er sich näher dem lieben Gott fühlt. Ist das bei dir so?

Kaltenbrunner: Ja, also die Schöpfung, die nie mehr am Berg genommen, intensiver war, das muss ich ganz ehrlich sagen. Und das Gefühl, so vollkommen eins zu sein mit mir und allem rundherum, mit dem ganzen, großen Ganzen, das spüre ich halt ganz besonders am Berg. Das ist so, ja. Vielleicht auch durch diese Großartigkeit, die Einsamkeit, die mir da oben... oft haben, speziell in den Momenten, das muss eben nicht nur am Gipfel sein, weil du vorher Ich habe eben davon gesprochen, dass das Oben-ankommen auch unterwegs schon oft ist. Wir steigen da in Etappen auf und oft auf 7000 Meter, 6000 Meter irgendein Biwak an einem schönen Platz mit Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang. Das sind dann die Momente, wo ich schon für mich spüre, dass da... in mir tiefe Stille eingehört. Wo einfach nur das Sein ist. Das sind die Momente, die mir enorme Kraft geben, für die man es macht. Ja, da weiß ich dann schon ganz genau, warum ich mich anstrenge, warum ich unterwegs bin, warum es mich da herzieht.

Stöckl: Zu, du nennst dich selbst als Glückskind. Wie ist das zu verstehen?

Soyhan: Wenn du dir mein Leben anschaust, dann habe ich einfach Glück gehabt. Ich habe mit dem Erdbeben Glück gehabt. Ich habe es geschafft, einen tollen Beruf zu haben. Ich habe einen Mann, ich habe Familie, ich habe Freunde. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Ich kann jeden Tag essen, was ich will. Was brauche ich mehr als das? Ein sehr glücklicher Mensch.

Stöckl: Dieses Wissen, was du angesprochen hast, dass es auch ganz anders sein könnte, also dass es knapp neben dem Leben, das man lebt, auch immer ein ganz anderes Leben gibt, das auch deines sein könnte, das lässt einen ja auch ein tiefes Gefühl.

Soyhan: Das bin ich auch. Ich bin schon ein zutiefst dankbarer Mensch für all diese Sachen. Ich finde das auch nicht sehr selbstverständlich. Das ist für mich ein Geschenk, dass ich für meine Kämpfe, für die Mühen, für alles, was ich da so... Auch an Depressionen oder Kummer oder... Unheimlich viele Tränen oder auch Einsamkeit. Ich war auch viele, viele Jahre ein sehr einsamer Mensch, weil sich um mich letztendlich auch niemand gekümmert hat. Und trotzdem waren es alles so diese wichtigen Komponenten offensichtlich oder das, was ich gebraucht habe, um heute da zu sitzen und zu sagen, ich bin einfach glücklich rundum. Mir fehlt dann nichts und ich misse auch nichts.

Stöckl: Du bist seit einem Jahr ungefähr verheiratet, glücklich mit deinem Axel. Du hast vorher erzählt, in der Zeit der Pubertät, da gab es nicht viele Freunde, da war mehr die Familie da. Wie schwer war das, ich meine, es ist für jeden schwer, mit und ohne körperlicher Behinderung, das Finden dieses Mannes, deines Partners, ohne immer sich selbst zu fragen, sagt er mit dem Ja, meint er wirklich mich, so wie ich bin, so wie ich ausschaue, so wie ich bin mit meiner Behinderung. Kannst du uns diesen Prozess erzählen?

Soyhan: Als ich Axel kennengelernt habe, habe ich gedacht, der muss selber einen an der Waffel haben. Es kann nicht normal sein, dass jemand einen Menschen wie mich liebt, nur vom Optischen her. Weil ich das vorher nicht erleben durfte oder erlebt habe. Ich war immer tierisch oft verknallt und dachte mir, ich bin doch so ein super tolles Mädel. Ich bin doch so blitzgescheit, ich bin klug, ich kann doch alles. Warum mag mich keiner? Und wenn du dann jemanden hast, der dann sagt, okay, du siehst jetzt irgendwie anders aus, du bist extrem klein, aber das macht dich nicht aus. Und das ist dann schon etwas, wo du dann denkst, so... Meint der das jetzt wirklich ernst? Und da habe ich dann schon auch gebraucht, bis ich mich da dem öffnen konnte oder dem vertrauen konnte und sagen konnte, das ist eben kein Spinner, sondern der macht sich die Mühe zu gucken, was ist das jetzt für ein Mensch? Also der jetzt weggeht von der reinen Optik und sich die Seele oder das Herz oder was auch immer, was es ist, was die Leute so aneinanderbindet. Und der hat sich einfach getraut und das ist auch ein weiteres großes Geschenk und ein Glück. Ich hatte nie damit gerechnet, dass ich in meinem Leben noch einen Partner finde. Und das auch noch zu kriegen, da wird man schon sehr demütig.

Stöckl: Das heißt, ich stelle mir vor, dass das Zueinander-Ja-Sagen in Form der Heirat da schon was ganz Besonderes ist. Es ist immer was Besonderes, aber in diesem Fall auch, wenn man das Gefühl hat, man hat jetzt jemanden gefunden, der meint wirklich mich. Und ich kann mich dieser tiefen Liebe...

Soyhan: Sicherlich, das ist schon ein Wahnsinnsmoment. Das ist wahrscheinlich, wie wir oben ankommen, wenn man seine Herzensmenschen da irgendwie findet. Der Axel ist dein Achttausender. Mit allen Achttausendern. Mit 14 mal Achttausender. Mit allen Herausforderungen. Man stellt sich auch die Frage als behinderte Frau, Mensch, kann man tatsächlich die Frau sein, die sich jemand einfach wünscht? Ich werde nie Kinder kriegen, kann ich einfach nicht aufgrund meiner Behinderung. Also was kann ich einem Partner geben? Wie glücklich kann der tatsächlich auch sein mit mir? Das waren schon so Gedanken. Und wie gesagt, ich habe das ja viele Jahre einfach für mich überhaupt nicht für möglich gehalten. Und habe mich nur auf meinen Job geschmissen und konzentriert und geguckt, dass ich da einen Bereich finde, der mich erfüllt. Aber so ist es natürlich auch wunderschön.

Stöckl: Hat er dir in gewisser Weise auch geholfen? Es ist schon mehrmals jetzt auch durchgeklungen, dass Teil deines Unrund mit einer Behinderung sein auch sozusagen die Auslösung mit deinem Körper ist, die körperliche Situation anzunehmen. Hatte er dir da auch darüber hinweg?

Soyhan: Also es gibt mir auf jeden Fall eine tiefe, tiefe Zufriedenheit, dass mich das nicht alleine ausmacht. Dass dieses Aussehen das nicht ist, was mich als Menschen irgendwie ausmacht. Es ist erstaunlich, aber wenn du einen Menschen hast, der das so nehmen kann, das reicht dir. Also dann ist es mir völlig wurscht, was andere jetzt irgendwie denken. Also das gibt mir schon sehr viel Kraft. Völlig überwunden habe ich es nicht. Ich leide immer an manchen Tagen darunter, dass ich zum Beispiel so ein furchtbar schiefes Kreuz habe oder so und so Schäpster in der Gegend rum sitzen muss. Das wird, glaube ich, auch nicht aufhören. Aber ich versuche, dem auch keinen Raum zu geben, weil andere Dinge wichtiger sind.

Stöckl: Gibt es aber genauso auch wiederum Tage, wo du vor dem Spiegel stehst und sagst, ich bin eine attraktive, ich bin eine schöne Frau.

Soyhan: Da muss man direkt mal überlegen, ob ich das gemacht habe. Da hat mein Taxifahrer zu mir gesagt, dass man mich bis hierhin total super anschauen könnte, weil ich ein sehr hübsches Gesicht hätte und alles andere, was danach käme, wäre einfach eine Katastrophe. Und deswegen, das hat mich schon sehr schwer getroffen und jetzt versuche ich auch immer mein Gesicht anzugucken. Nein, also so die Tage, wo ich dasitze und hurra schreibe und sage, was bist du für eine tolle Frau. Nein, das habe ich nicht, weil es mir auch irgendwann nicht mehr so wichtig war.

Stöckl: Das ist eine Frage an dich. Ja, genau. Mich würde echt interessieren, wo hast du deinen Mann überhaupt kennengelernt?

Soyhan: Also letztendlich kennengelernt habe ich ihn im Internet, was mir reichlich peinlich war, das zu erzählen, weil ich das immer total bescheuert fand. Aber eine Freundin hat zu mir gesagt, ich soll mir den im Universum bestellen. Und dann habe ich halt gedacht, na gut, das ist zwar totaler Quatsch, aber machst es halt mal. Und letztendlich kennengelernt habe ich ihn dann übers Internet.

Stöckl: Es heißt ja so schön, hüte dich vor deinen Bestellungen im Universum, sie könnten Wahrheit werden.

Soyhan: Da war es echt gut, dass es wahr geworden ist.

Stöckl: Gerlinde, wo hast du deinen Ralf kennengelernt? Blöde Frage, in den Bergen wahrscheinlich.

Kaltenbrunner: In den Bergen, das ist sehr naheliegend, genau. Das war bei einer Expedition in Nepal 2002. Da war er mit einer Gruppe unterwegs und ich mit einem kleinen Team. Und da sind wir uns das erste Mal über den Weg gelaufen und haben gesehen, wir haben dieselbe Leidenschaft. Das war das, was uns letztendlich zusammengebracht hat.

Stöckl: Er zählt auch zu den erfolgreichsten Bergsteigern, die es weltweit gibt. War auf allen Achttausenden schon oben, so wie du auch. Das heißt, es sind ja durchaus gemeinsame Erlebnisse, auch wenn man sie separat voneinander hat. Diese Beziehung ist aber gerade bei Expeditionen auch extremen Belastungen ausgesetzt. Nämlich Situationen, wenn einer im Lager bleibt und der andere, was öfters du warst bei diesen Situationen, beschließt weiter aufzusteigen. Was passiert da jetzt auch in dieser Beziehung? Kann man dann abstrahieren, dass man auch ein Liebespaar ist.

Kaltenbrunner: Es ist schon ein spannender Moment, wenn wir uns trennen, wie wir es am K2 Nordpfeiler zum Beispiel gehabt haben, wo wir gemeinsam aufgestiegen sind mit vier weiteren Teamkollegen und plötzlich der Ralf hinter mir sagt, Gerlinde, ich drehe um. Das war ein ganz schwieriger Moment. Aber wir haben im Vorfeld diese Situation durchgesprochen. Sollte es dazu kommen, dass für irgendjemand von uns das Bauchgefühl nicht mehr passt, einfach vom Gefühl her, das Risiko zu hoch einschätzt. dann muss er das sagen. Und dann darf sich da jeder diese Freiheit herausnehmen, eben umzudrehen und der andere auch weiterzusteigen, solange es dem anderen gut geht. Das ist ganz wichtig. Bräuchte irgendjemand Hilfe, steht das völlig außer Frage, dass wir gemeinsam umdrehen. Und da ist es dann schon ein Moment, des Loslassen-Könnens. Und wichtig ist schon, dass wir uns im Vorfeld da genau abgesprochen haben. Denn vor Ort zu diskutieren, anfangen, das könnte wirklich fatal enden. Das haben wir auch nicht gemacht.

Stöckl: Aber ist dann klar, dass deine Entscheidung in dieser Situation zählt oder könnte es zu einem Bitte-Geh-Nicht-Weiter-Kommen?

Kaltenbrunner: Also natürlich schon auch, aber es war in dem Fall so, dass ich so ein positives Gefühl hatte. Das hat mich von Beginn an begleitet. Ich kann es nicht beschreiben. Ich habe mir gedacht, diesmal wird alles recht werden. Und mir ist ganz stark auf der Zunge gelegen, dass ich zum Ralf sage, Ralf, wir können das schaffen, bitte. Mach weiter, komm mit. Und umgekehrt hat mir der Ralf hinterher gesagt, hätte er mich am liebsten geschnappt und mit runtergenommen. Aber wir haben das ausgemacht gehabt und so hat keiner irgendwas gesagt und nur den anderen gehen lassen. Und da waren wir dann neun Tage getrennt und hinterher das Wiedersehen natürlich umso schöner. Das kann man sich natürlich vorstellen.

Stöckl: Weil alles gut gegangen ist? Gibt es auch Situationen, wo es bei der Wiederkehr dann zu Streitigkeiten oder zu Diskussionen kommt?

Kaltenbrunner: Nein, gar nicht. Also hat es bisher überhaupt noch nie gegeben. Also meistens sind wir eh einer Meinung und entscheiden gleich. Aber natürlich fallen die Entscheidungen, wo wir uns getrennt haben, mehr auf. Das ist für viele Außenstehende völlig unverständlich, wie man seinen Partner da weitersteigen oder zurücklassen kann. Aber Streitereien am Berg, nein. Daheim haben wir schon oft Diskussionen und gerade, wenn wir so etwas aussprechen, da geht es oft stark hin und her. Aber wir kommen dann immer auf einen grünen Zweig und haben dann eine klare Abmachung, wie wir mit solchen Situationen am Berg umgehen und das funktioniert ganz gut.

Stöckl: Wie schaut euer Leben als Paar aus? Wie werdet ihr als Paar wahrgenommen? Welcher Skepsis oder welchen Fragen ist auch dein Axel ausgesetzt?

Soyhan: Wie werden wir wahrgenommen? Ich glaube, dadurch, dass wir beide sehr unverkrampft mit uns sind und so eins sind, ist es uns, glaube ich, auch gar nicht so wirklich wichtig. Aber meistens bekommen wir unheimlich viel positives Feedback, weil das finden die einfach total schön, dass wir uns einfach so gerne haben und so gerne zusammen sind. Ich weiß jetzt nicht, ob der Axel mal blöd angeredet worden ist, warum er jetzt so eine Frau hat wie ich. Also ich werde natürlich ständig bewundert, auch von meinen Freundinnen, die keinen abgekriegt haben. Ich glaube, vielleicht tragen wir auch ein Stückchen dazu bei, dass auch so etwas Platz in dieser Welt, in diesem Leben hat, dass Liebe ganz verschiedene Formen haben kann.

Stöckl: Das ist ja eigentlich deine große Botschaft, unausgesprochen und ausgesprochen, alleine indem man dich anschaut, indem man dein Leben betrachtet, dass das Leben schön ist, dass das Glück nicht abhängt von körperlichen Möglichkeiten. Wie oft möchtest und musst du das auch erklären für andere Menschen, die eine Behinderung, die ein körperliches oder auch geistiges Handicap haben, dass eben Behinderte nicht Opfer sind, die nicht mehr wollen sollen vom Leben?

Soyhan: Das ist manchmal schon schwer. Es kommt immer auch darauf an, in welcher Lebenssituation die vielen stecken. Viele Behinderte haben Träume, aber sie träumen einfach nur noch davon. Und dann ist es für mich schon auch schwer zu sagen, pack es doch einfach an. Und viele nehmen mich einfach auch als Wichtigtuerin zum Beispiel wahr, weil ich halt vieles geschafft habe. Aber viele Menschen mit Behinderung sind auch in der Situation, wo sie ihre Träume nicht verwirklichen können. Weil es eben nicht geht, weil da Grenzen da sind.Bei uns, aber für behinderte Menschen sind sie halt einfach sehr viel näher da, diese Grenzen, diese Spielmöglichkeiten oder auch diese Chance zu bekommen, ist einfach nicht gegeben. Wie ich aber auch schon gesagt habe, also immer noch die erste Moderatorin im Rollstuhl zu sein, ist eine Frage, die sich die Gesellschaft stellen muss. Ja, wieso ist das einfach so? Warum sind wir in unserem Leben so undurchlässig? Also für mich ist es immer unheimlich schwer. Ich kann natürlich jetzt super klug daherreden und sagen, schau mal, bei mir hat es ja auch geklappt. Das ist auch so eine Haltung, die man irgendwie hat. Vielleicht war ich größenwahnsinnig an manchen Stellen. Das mag schon sein, dass ich mir Dinge vorgenommen habe, die wirklich jenseits waren. Aber ich bin ja auch gescheitert. Die war auch größenwahnsinnig. Nein, aber mein Größenwahn ist ja irgendwie, den sagen mir ja die anderen. Also ich für mich hätte ja mir alles vorstellen können, aber es ist schon schwer, so ein Feedback zu geben für Leute. Ich kann einfach nur jeden, ob behindert oder nicht, aufmuntern und sagen, probiere es. Und wenn es nicht geklappt hat, dann hast du es zumindest probiert. Binsenweisheit, aber ist halt so.

Stöckl: Wie oft hat man dir gesagt, Gerlinde, du bist größenwahnsinnig, Mädchen machen das nicht?

Kaltenbrunner: Ja, also das habe ich schon öfter gehört, muss ich zugeben. Und ich spinne sowieso und ich bin verrückt, also das hat es schon öfter gegeben. Aber ich habe mich von dem auch nicht abbringen lassen. Ich bin einfach dem gefolgt, was ich von innen raus gespürt habe. Und habe auch oft vor dem Ziel umgedreht und auch auf meine Art Rückschläge gehabt und habe aber trotzdem mein großes Ziel nie aus den Augen verloren. Ich habe es halt wieder und wieder probiert und auch viele Umwege in Kauf genommen. Und ich glaube, wenn man was wirklich, wirklich von innen raus will, nicht, dass dann das jemand anderer sagt, du mach das, probier das, weil das könnte klappen, sondern wenn du das von innen spürst, du kennst das am allerbesten, dann kann das funktionieren. Es dauert oft lang, es braucht oft viele Umwege, aber es kann funktionieren. Ich glaube, da spielt der Glaube, der Glaube an sich selber schon eine große Rolle.

Stöckl: Es ist auch mehrheitlich jedenfalls eine Männerwelt. Wie war deine Situation als Frau unter vielen Männern in vielen Situationen? Kennst du eine Form der Diskriminierung, wie sie die Zu auf ganz anderem Sektor kennt?

Kaltenbrunner: Diskriminierung möchte ich das gar nicht bezeichnen. Einfach nicht wahrgenommen werden. Gerade die ersten Jahre, ich glaube nach meinen Achttausender, war so dann das erste Mal, dass mich auch männliche Kollegen um meinen Rat gefragt haben, wie ich die Situation einschätze, wie mein Plan ausschaut mit dem Aufstieg und so weiter. Und da ist mir dann halt einfach aufgefallen, positiv aufgefallen. Ich glaube, jetzt nehmen sie mich ein bisschen wahr. Aber ich habe mir da auch nie was draus gemacht, dahingegangen, um den anderen zu beweisen, wie gut oder stark ich bin und was ich mag, sondern ich bin da hingegangen, weil es mich hingezogen hat, weil ich so gern da rauf wollte und das war es und ist es eben immer noch.

Stöckl: Zu, du bist ja als Türkin nach Deutschland gekommen und du bist behindert. Welche Form der Diskriminierung hast du schlimmer empfunden?

Soyhan: Als Kind immer die türkische und dann kommt ja noch die Frau dazu. Das ist ja nicht nur die Behinderung, sondern die Frau habe ich auch noch an der Backe sozusagen, mit der ich irgendwie klarkommen muss. Wobei die Frau ist jetzt wirklich mein geringstes Problem. Nee, es war schon als Kind immer die Türkin und dann natürlich später, als es im Beruf ging, als es um Schule ging, als es im Job ging, und auch heute ist es natürlich in erster Linie, bist du die Behinderte und dann bist du Frau und dann gucken sie weiter, was du sonst noch so bist. Das ist leider immer noch so.

Stöckl: Ich möchte die Frau aber doch nochmal aufnehmen und an die Gerlinde weitergeben, weil auch du ein Leben lebst, das ganz extreme körperliche und mentale Herausforderungen hat. Wie viel Weiblichkeit bleibt auf der Strecke am Weg zum Gipfel?

Kaltenbrunner: Also Weiblichkeit, die trage ich in mir. Aber wenn man von der äußeren Weiblichkeit spricht, bleibt natürlich voll auf der Strecke, ist aber auch nicht wichtig. Also da zählen dann ganz, ganz andere Dinge. Und Frau bleibe ich aber trotzdem. Ganz egal, wie hoch ich steige, was ich mache, das ist halt mein inneres Gefühl, meine eigene Wahrnehmung.

Stöckl: Gib uns einen kurzen Einblick in das Leben am Berg, zum Beispiel im Basislager. Wie werden ganz profane Dinge abgehandelt? Wie geht das Kochen? Wie geht das zur Toilette gehen? Wie funktioniert das alles?

Kaltenbrunner: Im Basislager funktioniert es noch ganz gut. Im Basislager muss man sich vorstellen, da baut man ein großes Mannschaftszelt auf, da hat man ein kleines Zelt, wo man drin schlafen kann, wo man sich zurückziehen kann. Und da bekommen wir auch öfter mal, wir haben einen Koch mit dabei im Basislager, der uns manchmal warmes Wasser macht, dass wir uns auch körperlich reinigen können. Also das ist da wirklich schon Luxus. Und das Schöne für mich ist ja so, reduziert zu sein auf ganz wenig und einfach auch zu spüren, wie wenig man eigentlich braucht. auskommt über ganz lange Zeit und ja und Haarwaschen, as tritt dann in den Hintergrund. Das ist aber auch nicht wichtig. Es geht da jetzt um ganz was anderes, nämlich möchte man gerne den Berg besteigen. Und am Berg selber, da wird es dann wirklich schwierig, weil da haben wir über viele Tage immer dieselbe Bekleidung an. Aber meine Zahnbürste zum Beispiel habe ich immer mit dabei, trotzdem. Das ist so mein Luxus, das gönne ich mir einfach. Und das ist nicht wichtig in dem Moment. Und dafür hinterher, wenn ich zurückkomme von einer Expedition, umso schöner wieder eine warme Dusche zu haben.

Stöckl: Im Moment ist ja wieder Vortragssaison bei dir. Was möchtest du den Menschen da mitgeben von deinen Erfahrungen aus dem Extrembergsteigen?

Kaltenbrunner: Die wichtigste Botschaft für mich ist einfach, dass, es geht gar nicht wirklich um die Achttausender. Jeder hat so seinen persönlichen Achttausender. Ich glaube, wichtig ist einfach, dass jeder Mensch für sich entdeckt, was für Fähigkeiten ich habe und was ich am liebsten tue. Und wenn man das miteinander kombinieren kann, dann ist das perfekt. Und das möchte ich vor allem jungen Menschen mitgeben, dass sie wirklich versuchen, für sich zu entdecken, wo soll es hingehen, was tue ich gern und was kann ich gut. Eigentlich die Hauptbotschaft, die ich geben möchte. Und von innen raus mit Begeisterung was machen, bringt einen wirklich vorwärts.

Stöckl: Kannst du mit kleinen Bergen auch was anfangen?

Kaltenbrunner: Natürlich, auf jeden Fall. Wenn ich einen Berg habe, ganz egal wie hoch, dann geht es mir richtig gut. Also es geht mir sonst natürlich auch gut, aber da bin ich halt dann besonders bei mir und sehr zufrieden. Und das sind die heimischen Berge in Oberösterreich genauso wie die Schweizer Alpen oder immer wieder Himalaya oder Karakorum.

Stöckl: Zu, der Blick hinunter nach Lofer heute, was ist der Blick von oben runter, was tut der mit dir?

Soyhan: Der macht mich ganz groß, weil ich da endlich mal eine andere Perspektive habe, als immer nur von unten nach oben zu schauen. Das ist toll. Ich liebe es. Ich liebe es, da oben zu sein und diese Berge zu sehen. Ich glaube, wir dürfen ja nur nicht zu nahekommen, aber ansonsten finde ich das großartig. Tolle Perspektive.

Stöckl: Ich bedanke mich bei euch beiden ganz, ganz herzlich für ein wunderbares Gespräch, für Einblicke in tiefe Schluchten und ganz große Höhen. Zwei große Persönlichkeiten, Zu Soyhan, Gerlinde Kaltenbrunner. Es war mir eine Freude und eine Ehre. Ich bedanke mich für Ihr Interesse an unserer Sendung. Ich sage auf Wiederschauen vom Loderbichl. Danke fürs Zuschauen.

„Gipfel-Sieg: Der Wille versetzt Berge“ ist eine Produktion von ORF III. Hergestellt von Kiwi-TV in Zusammenarbeit mit RollOn Austria.