Gedanken für den Tag

"Tage der Besinnung, des Innehaltens und der Versöhnung". Von Hannah Lessing

Hannah Lessing ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und gläubige Jüdin.

Mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana beginnt für Jüdinnen und Juden das neue Jahr und die "zehn Tage der Umkehr". Nach jüdischer Überlieferung wird - so die Symbolik - das Buch des Lebens vor dem Richterstuhl Gottes aufgeschlagen. In diesem Buch sind die Taten der Menschen festgehalten. Am ersten Tag, d. h. am Neujahrstag, wird das Urteil geschrieben, und am zehnten Tag wird es besiegelt, lehrt der jüdische Glaube. Dies ist der Versöhnungstag "Yom Kippur". Die zehn Tage sollen den Menschen die Möglichkeit geben zur Selbstbesinnung, zur Reue über unrechte Taten und zur Bitte um Versöhnung bei den Mitmenschen, denen man Böses angetan hat. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, ist ein Fest der Erinnerung. Die Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur gelten dem Innehalten, dem Rückblick auf die eigene Geschichte.  
 
Das Verhältnis der Menschen zur Erinnerung von Geschichte - insbesondere des dunklen Kapitels des Nationalsozialismus - war nie einfach. Wir brauchen aber Erinnerung und Gedenken, denn Geschichte ist ein Kontinuum, und die Vergangenheit wirkt in der Gegenwart fort.
 
Gerade jetzt ist die Diskussion um die Frage: Erinnern oder doch besser vergessen? neu aufgeflammt. Der deutsche Historiker Christian Meier erinnert an die bereits in der Antike gelebte Praxis, Frieden zu stiften durch die Vereinbarung von "Ewigem Vergessen". So soll die Zukunft nicht zu belastet werden durch die wechselseitige Aufrechnung geschehenen Unrechts.
 
Dieser Weg stößt jedoch angesichts des immensen einseitig verübten Unrechts an seine Grenzen: Ein Ereignis wie den Holocaust kann und darf man nicht einfach vergessen.
 
Damit Versöhnung dauerhaft möglich wird, braucht es zunächst die Erinnerung, das Eingestehen des Unrechts. Erinnern bedeutet ver-inner-lichen, zu einem Teil von sich selbst machen. Das ist wichtig für die Opfer, aber ebenso für die Täter und die nachfolgenden Generationen, die daraus lernen können.
 
Und nicht zuletzt bedeutet für die Nachkommen der Opfer die Erinnerung an ihre Vorfahren auch ein Stück Begegnung mit ihrem eigenen spirituellen Selbst: Als Kind hatte ich in mein erstes Gebetsbuch ein Foto meiner Großmutter geklebt, zusammen mit ihrer Transportkarte von Theresienstadt nach Auschwitz. So war sie immer ein Stück bei mir an den Hohen Feiertagen. In der Erinnerung spüren wir die Verbundenheit mit den Menschen, die uns wichtig sind - mit den Lebenden wie mit den Toten.
 
Mir fallen dazu die Worte von Rabbi Israel Ben Elieser, genannt "Baal Schem Tow" ein, der im 18. Jahrhundert die mystische Bewegung des Chassidismus begründete: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Er-Innerung".

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