Gedanken für den Tag

"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht" von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Lesen eröffnet fiktive Bilder, von denen aus die sogenannte Realität in einem anderen Licht erscheint und genauer zu sehen ist. Lesen ist ein Ort, wo jede und jeder zu sich selbst kommt und spielerisch einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann. Lesen, die "Lust am Text" (Roland Barthes), ist ein Lebensmotor, der auch dann seine Energien entfalten kann, wenn das Leben außerhalb der Bücher trist und brüchig ist. Lesen kann auch ein religiöser Akt sein - nach jüdisch-christlicher Überzeugung offenbart sich Gott in Literatur - in der Bibel. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Lesen hilft leben. Wenn es nur so einfach wäre, schön wär's. Für mich war Lesen am Anfang ein Rückzug, eine rettende Fluchtwelt. Die Sprachwelt war faszinierender als die reale. Die Bauernkinder im Dorf haben mich in den Schnee gestoßen, aber in der Sprache war ich ihnen überlegen. Nein, nicht in der Rede, denn für den Wettkampf mit Worten war ich mein halbes Leben zu langsam; doch aus meinen Lesewelten konnte mich niemand vertreiben. Und weil ich vor Menschen oft Angst hatte, besonders wenn ich sie nicht kannte und wenn es zu viele waren, wurden auch in den Büchern die Tiere zu meinen engsten Vertrauten. "Peter in der Katzenstadt", "Bolke der Bär" und "Kasimir der Igel" waren meine Freunde, bevor sich Andersens einsame Märchenwelt in mich eingrub, und sie sind mir bis heute nicht aus dem Kopf gegangen. Meine Mutter, die selbst nur die Volksschule abschließen konnte, aber immer ans Lesen geglaubt hat, hat mir von ihrem letzten Geld diese Bücher gekauft.

Heute lese ich nicht mehr, um mich vor den Menschen zu verstecken. Und meine Faszination für die Bücher, die Neugier auf Sätze und Wörter, hat viele Verwandlungen durchgemacht, aber sie ist unverändert stark. Dass Lesen auch Arbeit ist, dass ständig mehrere Bücher warten, über die ich schreiben muss, beeinträchtigt die Freude am Lesen gar nicht. Begründen kann ich das nicht, und manchmal wundere ich mich selbst darüber.

Die schönste Beschreibung für das Abenteuer der Literatur habe ich bei Georges-Arthur Goldschmidt gefunden, dem aus Deutschland vertriebenen Autor und Übersetzer ins Französische. "Wir sind einander gegenseitig unfassbar, und das ist der Randbezirk, aus dem das Schreiben gespeist wird und dem es zugleich zum Ausdruck verhilft", heißt es bei Goldschmidt. Schreiben fängt für ihn mit dem Innewerden des Individuums an, oder in seinen Worten "mit der unüberwindlichen Schranke, die mich von meinem Nachbarn in der Metro trennt". Diese Quelle des Schreibens ist auch beim Lesen spürbar. Darum öffnet mir Lesen den Blick auf andere - und auf mich selbst.

Service

Buch, Georges-Arthur Goldschmidt, Der Stoff des Schreibens, Matthes & Seitz Verlag

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