Gedanken für den Tag

19. Februar 2011, 06:57

Christine Hubka ist evangelische Theologin, Pfarrerin i. R. und Schriftstellerin.

Rote Rosen und Lebkuchenherz sind mögliche Zeichen für Liebe. Es kann aber auch Liebe sein, wenn der große Bruder zum kleinen sagt: "Du darfst ganz lange nicht mehr in mein Zimmer kommen." Denn Liebe treibt bunte Blüten.
Am Valentinstag und an den darauffolgenden Tagen erzählt Christine Hubka Alltagsgeschichten, die - vielleicht erst auf den zweiten Blick - von der Liebe handeln. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Die Rollen sind klar verteilt: Moritz ist der Große. Er kann fließend lesen, fast fehlerlos schreiben und das Ein mal Eins behände anwenden.
 
Henni kann schon Oma schreiben, und fünf plus vier zusammen zählen. Aber wenn es drum geht, das Fernsehprogramm zu lesen, braucht sie den großen Bruder. Der lässt sie seine Überlegenheit auch genussvoll spüren.
 
Als Henni eines Nachmittags aus der Schule kommt, bringt sie ein kleines Stück Pappkarton mit. Es ist achteckig, hat in der Mitte ein Loch, aus dem ein buntgeflochtenes Band heraus hängt. Stolz zeigt Henni, dass sie mit dem Freundschaftsband schon fast fertig ist.
 
Moritz ist begeistert. Er sieht der Schwester eine Weile beim Flechten zu. Dann will er auch ein Freundschaftsband machen. Nach Hennis Anweisungen schneidet er den Karton zu, legt die Wollfäden in Position, lässt sich noch einmal die Handgriffe zeigen, und legt los. Immer wieder zeigt er Henni seine Arbeit. Sie bestätigt, dass er es gut macht. Er freut sich.
 
Den ganzen Nachmittag sitzen sie und weben an den Freundschaftsbändern. "Wem schenkst du denn deines?", fragt Moritz. "Ich glaub, ich schenke es dir", sagt Henni. "Du bist zwar mein Bruder, aber du bist auch mein Freund." "Dann schenke ich dir meines", strahlt Moritz. "Du hast mir so was Schönes beigebracht." Sie knüpfen sich die fertigen Bänder gegenseitig ums Handgelenk.
 
Morgen wird Moritz vielleicht wieder den Überlegenen hervorkehren. Und Henni wird spüren, dass sie in Vielem mit ihm nicht mithalten kann. Aber heute hat Moritz erlebt, dass er auch von der jüngeren Schwester etwas lernen kann. Und Henni hat gespürt, wie Moritz sie für ihre Fertigkeit bewundert.
 
Liebe lässt sich von den Fähigkeiten des Kleineren und Schwächeren überraschen und staunt darüber.

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