Die Diagonal-Irritation

Stadt im Süden, die Richtung Norden schaut

Nur zwei Straßen queren alle anderen Straßen diagonal; zwei Straßen, die beide vom Zentrum, dem Hauptplatz von Buenos Aires, der Plaza de Mayo, ausgehen und die beide Gesichter von Buenos Aires zeigen: Diagonal Norte und Diagonal Sur.

"Die Nachmittage in Buenos Aires haben dieses, ich weiß nicht was....?!!", sagt ein Tango und erzählt, wie jemand durch die Straßen von Buenos Aires schlendert. Die Straßen dieser uferlosen Stadt, die von Einwanderern am Beginn des 20. Jahrhunderts bevölkert wurde, mit all ihren Kulturen, die zu einer einzigen werden: der des Porteno. Mit Architektur, die an die Herkunft der europäischen Einwanderer erinnert und der üppigen Vegetation, die einen wieder zurückholt auf den richtigen Breitengrad. Diese Straßen mit dem typischen Raster lateinamerikanischer Städte, Schachbrett, kilometerlang.

Nur zwei Straßen queren alle anderen diagonal; zwei Straßen, für die man ursprünglich keinen Namen fand; zwei Straßen, die beide vom Zentrum, dem Hauptplatz von Buenos Aires, der Plaza de Mayo, ausgehen und die beide Gesichter von Buenos Aires zeigen: Diagonal Norte und Diagonal Sur. Die "Diagonal" ist ein Querschnitt durch die ganze Stadt, die einfache und die noble, die ärmliche und die elegante, die melancholische und die aufmüpfige, die angeberische und die leise...

Alles ist Gegenwart

In den Straßen von Buenos Aires kann sich keiner verlieren, es sei denn, er spricht nicht mit den Leuten. Diese Leute, die ihre Geschichten erzählen müssen, wortreich über ihre glorreiche Vergangenheit und ihre heutigen Sorgen sprechen. Menschen, die dich mit einem Satz aus dem Gestern ins Heute holen. Alles ist Gegenwart hier, prickelnde, quirlige, lustvolle und schmerzvolle Gegenwart. Und die spielt sich auf der Straße ab. Hier definieren sich die Gegensätze und vermischen sich neu: reich und arm, intellektuell und reaktionär, Jude und Nazi, Nord und Süd.

Reicher Norden, armer Süden

Ein Blick auf die Straßennamen zeigt, auf welcher Seite der Gesellschaft man gelandet ist. Da ist die Avenida Rivadavia, diese 35 Kilometer lange Straße, die Buenos Aires durchquert und teilt: in den reicheren Norden und den ärmeren Süden. Seit es sie gibt, konkurrenzieren die beiden Hälften wie zwei gegnerische Fussballclubs. Beide Seiten beanspruchen für sich, der bessere, der ursprünglichere und der ehrlichere Teil der Stadt zu sein. Nord und Süd stellen zwei Varianten dar, die Stadt zu verstehen und zu erleben. Beim Kreuzen der Rivadavia ändern die ewiglangen Straßen des Schachbrettmusters ihre Namen.

Wenn man auf der "Reconquista"-Straße ist, gehört man zu den Gewinnern. Die gleiche Straße heißt auf der anderen Seite von "Rivadavia" "Defensa" - "Verteidigung". Hier gehört man zu denen, die mit dem Überleben kämpfen, deren Melancholie im Tango ihren Ausdruck findet. Man ist auf der Seite derjenigen, die sich nach einer Zukunft sehnen, die unerreichbar ist, derjenigen, die das Fundament dieser Gesellschaft sind und dort zu Hause sind, wo die Straße "Piedras", "Steine" heißt, nicht dort, jenseits von Rivadavia, wo sie zu "Esmeralda" - "Smaragd" wird.

Schiefe Stadt

In dieser scheinbaren Ordnung irritieren die beiden Diagonal-Straßen. Weil sie ein scheinbar fest gefügtes Muster durchbrechen. Am schlimmsten ist es, wenn man selbst eine der Diagonalen entlang geht, dann erscheint einem nämlich die ganze übrige Stadt schief zu sein, plötzlich kreuzen alle Straßen nicht mehr im gewohnten rechten Winkel sonder spitz oder stumpf.

Ungezähmte Energie

Diese Stadt mit ihren Bäumen und Plätzen, Autos, Taxis und Autobussen, mit all den Leuten, die von einem Ort zum anderen rennen, diese Stadt, die reich war, als Europa arm war, diese Stadt, die nach Norden schaut, als würde ein Zug von dort kommen, der sie wieder zurückbringt in glorreiche Zeiten, diese Stadt hat eine lebensstarke Energie, die selbst die Portenos nicht akzeptieren wollen. Sei es, weil der Tango, diese ewige Klage, hier in der Luft liegt, oder vielleicht weil die Bewohner von Buenos Aires glauben, dass ihr Stolz, dieses Übermaß an Selbstbewusstsein, durch noble und virtuose Zurückhaltung in Schach gehalten werden muss.

Um diese ungezähmte Energie würden die Portenos viele der von ihnen so bewunderten Europäer beneiden, aber die Bewohner von Buenos Aires haben keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Platz zu suchen, zwischen altem und neuem Kontinent, der Täter- und der Opferrolle in Wirtschaftsfragen, zwischen Nord und Süd.