Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts" - zum 100. Geburtstag des rumänisch-französischen Denkers E. M. Cioran

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

E. M. Cioran (geboren 1911 in Rasinari bei Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris) war ein kompromissloser Selbst-Denker und stellt in seinen Aphorismen und Kurzessays weltanschauliche und religiöse Gewissheiten radikal in Frage. Gleichzeitig hat sich dieser Skeptiker ein Leben lang mit ekstatischen Mystikern, Heiligen und außenseiterischen religiösen Traditionen beschäftigt und formuliert: "Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird."

Große Formulierungskraft und die Lust an paradoxer Zuspitzung machen Cioran zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer - gerade auch in Sachen Religion. In den persönlichen Begegnungen war der bekennende Menschenfeind und radikale Weltverneiner ein offener Gesprächspartner mit großem Charme.

Eine unvergessliche Fahrt in einer alten Straßenbahn entlang von Wiesen, Äckern und Krautgärten aus dem siebenbürgischen Hermannstadt in das etwa zwölf Kilometer entfernte kleine Dorf Rasinari. Dort stehen wir im Sommer 2002 und zählen, ob uns mehr Pferdefuhrwerke entgegenkommen oder mehr Autos. Es hält sich ungefähr die Waage. Neben dem kleinen Bach, in dem Enten herum steigen, steht das alte Pfarrhaus, darauf ist eine Gedenktafel angebracht: Hier wurde am 8. April 1911 - heute vor 110 Jahren - der Denker Emil Cioran geboren. In Paris, wo er berühmt wurde, spricht man ihn aus. Doch hier, in Rasinari wohnen Menschen, die nichts von ihm zu wissen scheinen; jedenfalls können wir nicht ins Haus.

In diesem abgelegenen Dorf, wo die Zeit nicht erst in den letzten Jahren stehen geblieben zu sein scheint, begreife ich, dass für Cioran schon Hermannstadt, wo er das Lyzeum besuchte, eine fremde Welt war. Wie weit von hier, nicht nur geografisch, Bukarest entfernt ist, wo er 1928-32 Philosophie studierte und den Religionswissenschaftler Mircea Eliade und den späteren französischen Dramatiker Eugene Ionesco kennenlernte. Noch viel weiter war der Weg von hier zur Literaturszene und den Intellektuellenzirkeln von Paris, von denen sich Cioran konsequent fern hielt und in seiner Mansardenwohnung in der Rue d'Odeon ziemlich einsiedlerisch hauste.

Dort habe ich ihn 1991, vier Jahre vor seinem Tod, zum letzten Mal getroffen. Das Porträt zu seinem 80. Geburtstag war der Beginn meiner Arbeit für den ORF und den Bayerischen Rundfunk. Doch nicht nur deswegen wird mir Cioran immer in Erinnerung bleiben, sondern vor allem weil er ein Selbst-Denker war - in seinen ebenso absichtslosen wie konzentrierten Gesprächen wie in seinen Aphorismen. "Die Skepsis ist eine Übung in Entfaszination", lautet einer von ihnen. Cioran, der als junger Mann vom Faschismus fasziniert war, hatte wohl viel von dieser skeptischen Übung hinter sich, als er den Satz hinschrieb.

Service

Bücher von E. M. Cioran
E. M. Cioran, Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp Quarto 2085. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Einzelne Werke sind in den Verlagen Suhrkamp und Klett-Cotta erschienen; die "Syllogismen der Bitterkeit" sind derzeit nicht als Einzelausgabe lieferbar.

Nicht in der Werkausgabe enthalten sind folgende Schriften:

E. M. Cioran: Cahiers 1957-1972. Ausgewählt und aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

E. M. Cioran: Aufzeichnungen aus Talamanca. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort vom Verena von der Heyden-Rynsch. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008

E. M. Cioran: Über Frankreich. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011


Bücher über E. M. Cioran
Cornelius Hell: Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans.
Bouvier Verlag, Bonn 1985 (=Studien zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Band 11) Nicht mehr lieferbar

Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Silvana Lindner: Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2006

Franz Winter: Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2007

Bernd Mattheus: Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110408 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

weiteren Inhalt einblenden