Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts" - zum 100. Geburtstag des rumänisch-französischen Denkers E. M. Cioran

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

E. M. Cioran (geboren 1911 in Rasinari bei Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris) war ein kompromissloser Selbst-Denker und stellt in seinen Aphorismen und Kurzessays weltanschauliche und religiöse Gewissheiten radikal in Frage. Gleichzeitig hat sich dieser Skeptiker ein Leben lang mit ekstatischen Mystikern, Heiligen und außenseiterischen religiösen Traditionen beschäftigt und formuliert: "Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird."

Große Formulierungskraft und die Lust an paradoxer Zuspitzung machen Cioran zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer - gerade auch in Sachen Religion. In den persönlichen Begegnungen war der bekennende Menschenfeind und radikale Weltverneiner ein offener Gesprächspartner mit großem Charme.

"Gibt es einen reicheren Besitz als den Selbstmord, den jeder in sich trägt?" Diese Frage stellt der rumänisch-französische Autor E. M. Cioran in seiner "Lehre vom Zerfall". Cioran hat den Selbstmord aus philosophischen Gründen empfohlen; und er hat in seiner Jugend wohl oft selbst daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Weil er dann trotzdem über 80 Jahre alt wurde, hat er sich selbst einmal als einen "Ruheständler des Selbstmordes" bezeichnet. In seinen "Syllogismen der Bitterkeit" formulierte er, was ihm überleben geholfen hat: "Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich schon längst getötet."

Auf den ersten Blick mag diese Aussage paradox klingen; ich kann sie jedoch sehr gut nachvollziehen, beschreibt sie doch eine Erfahrung, die ich mit der Lektüre Ciorans gemacht habe. Dass es leichter wäre, nicht leben zu müssen, dass ich verschwinden möchte - dieses Lebensgefühl kannte ich als junger Mann nur zu gut. Manchmal habe ich den Satz gedacht: Ich kann mich ja nicht einmal umbringen. Das war wie ein Zwang - er kam von der christlichen Tabuisierung des Suizids und vom Gedanken an meine Mutter, die niemanden hatte als mich. Die Lektüre Ciorans war da wie eine Befreiung: Die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, bleibt immer. Wenn es keinen Zwang zu leben gibt, ist das Leben auf einmal leichter.

Einige Jahre nach diesen Gedanken wurde meine große Tochter geboren. Einmal, als ich in ihren ersten Lebensmonaten über ihre und unsere Zukunft nachdachte, war auf einmal der alte Satz wieder da, er hatte sich nur ein wenig verändert: Jetzt kann ich mich nicht mehr umbringen. Und auf einmal löste dieser Gedanke zu meinem großen Erstaunen ein leuchtendes Glücksgefühl aus und ich schüttelte erstaunt den Kopf darüber, dass das für mich einmal ein Zwang gewesen war. Aber gerade deswegen gilt für mich noch immer, was ich von Cioran gelernt habe: Dass es besser ist, den Gedanken, aus dem Leben scheiden zu wollen, zuzulassen anstatt ihn zu tabuisieren oder zu kriminalisieren. Das Zulassen des Wunsches ist vielleicht der erste Schritt dazu, ihn nie ausführen zu müssen und das Leben wirklich als ein Geschenk zu betrachten.

Service

Bücher von E. M. Cioran
E. M. Cioran, Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp Quarto 2085. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Einzelne Werke sind in den Verlagen Suhrkamp und Klett-Cotta erschienen; die "Syllogismen der Bitterkeit" sind derzeit nicht als Einzelausgabe lieferbar.

Nicht in der Werkausgabe enthalten sind folgende Schriften:

E. M. Cioran: Cahiers 1957-1972. Ausgewählt und aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

E. M. Cioran: Aufzeichnungen aus Talamanca. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort vom Verena von der Heyden-Rynsch. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008

E. M. Cioran: Über Frankreich. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011


Bücher über E. M. Cioran
Cornelius Hell: Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans.
Bouvier Verlag, Bonn 1985 (=Studien zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Band 11) Nicht mehr lieferbar

Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Silvana Lindner: Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2006

Franz Winter: Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2007

Bernd Mattheus: Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110409 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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