Gedanken für den Tag

von Rudolf Taschner. "Sechs Fragen zur Gerechtigkeit"

"Was ist denn schon gerecht? Der Ort unserer Geburt? Unsere Herkunft? Unsere Gene, die scheinbar Schicksal spielen? Der Zufall, der uns vor einem Unglück bewahrt, oder uns über Nacht zum Millionär werden lässt?", das fragt Rudolf Taschner, Professor an der Technischen Universität Wien, Betreiber des "math.space"-MuseumsQuartiers und Autor des Buches "Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film".

Gerechtigkeit auf dieser Welt gebe es nicht, meinen hoffnungslose Realisten. Doch das eigene Glück hängt nicht unbedingt davon ab, wie groß das Stück vom Kuchen ist, das man selbst abbekommt, hält der Mathematiker Rudolf Taschner dagegen und gibt einige Denkanstöße mit auf den Weg.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Gerechtigkeit und Geschichte

Geschichte ist eine Erfindung. Wurde sie deshalb erfunden, um der Vergangenheit Gerechtigkeit angedeihen zu lassen?

Cicero nannte Geschichte eine Lehrmeisterin, der er göttliche Eigenschaften, vor allem die der Gerechtigkeit, zusprach. 1784 sagte Schiller im Sinne dieses Weltbildes den berühmten Satz: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." So als ob die wahre und einzige Gerechtigkeit in der Geschichte zu finden sei. Hegel führt den Gedanken weiter: "Die Weltgeschichte ist ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben."

Die Geschichte schreite, so Hegel, vernunftgetrieben voran: Sie beginne mit der orientalischen Epoche, in der nur der Herrscher Freiheit genoss. Auf sie folge die Antike, in der Teile der Bürgerschaft frei waren. Schließlich vollende sie sich in der modernen Welt, in der alle frei sein können.

Ernst nehmen sollte man all dies nicht. Denn Geschichte ist willkürliche Erfindung. Jede Nation und jede Generation schreibt ihre Geschichte anders und neu. Denn jede Nation und jede Generation braucht Geschichte als Verbündeten für die von ihr geförderte Weltanschauung und Moral. Darum ist die Geschichte keine gute Lehrmeisterin. Für jene, die an sie glauben, ist sie der Rohrstock in der Hand der eigentlichen Zuchtmeisterin, welche auf den Namen "Ideologie" hört.

Wer die wahre und einzige Gerechtigkeit in der Geschichte zu finden hofft, sucht vergeblich. Finden kann man nur ein Zerrbild der Gerechtigkeit. Sucht man wahre Gerechtigkeit, darf man nicht der Geschichte vertrauen, sondern muss auf die innere Stimme hören.

Service

Buch, Rudolf Taschner, Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film, Ecowin Verlag

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Titel: GFT 110812 Gedanken für den Tag / Rudolf Taschner
Länge: 03:47 min

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