Gedanken für den Tag

Von Stephan Schulmeister. "Geld, Krise und Gemeinschaft". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die sich seit 2007 vertiefende Krise hat systemische Ursachen: In Etappen implodiert jene "Spielanordnung", in der sich das Gewinnstreben immer mehr von unternehmerischen Aktivitäten auf Finanzakrobatik verlagerte. Dieses System hat sich seit Anfang der 1970er Jahre ausgebreitet, wissenschaftlich durch die neoliberale Theorie legitimiert, wonach nur der freie Markt ökonomische - und damit auch soziale - Prozesse steuern solle. Genau zehn Jahre nach der Einführung des Euro als alleiniges Zahlungsmittel in vielen Ländern Europas macht sich der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister Gedanken über den Widerspruch zwischen den Grundwerten der Bürgerinnen und Bürger in der EU sowie ihren Erwartungen an die Politik einerseits und der neoliberalen Identität der EU in ihren Regelwerken, Institutionen und ihrer politischen Praxis andererseits.

Die Krise in Europa spitzt sich zu. Die gemeinsame Währung ist bedroht, Staatsschuld und Arbeitslosigkeit steigen, eine Rezession steht bevor. Ich habe diese Entwicklung schon vor zwei Jahren in einem Buch beschrieben. Die Hauptdiagnose war: Mit der Krise kollabiert das finanzkapitalistische System. Dieses hat sich seit den 1970er Jahren ausgebreitet, und zwar durch Navigation auf Basis der neoliberalen Karte.
Aus dieser Diagnose leitete ich Buchtitel und Strategie ab: "Mitten in der großen Krise - ein ,New Deal' für Europa". Ein solcher "New Deal" müsste unternehmerische Aktivitäten auf allen Ebenen besser stellen als Finanzakrobatik. Die Bewältigung der bisher vernachlässigten Aufgaben muss zum Wachstumsmotor gemacht werden. Dazu gehören eine Verbesserung der Umwelt, insbesondere die Bekämpfung des Klimawandels, Investitionen ins Bildungswesen, insbesondere zur besseren Qualifikation von Kindern mit Migrationshintergrund, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere zur Bekämpfung der Armut, und vieles mehr.
Durch eine solche expansive Strategie würde der soziale Zusammenhalt gestärkt und die Umwelt verbessert. Ein nachhaltiges Wachstum würde auch Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung schrittweise senken. Schuldenbremsen in der gesamten EU hätten den gegenteiligen Effekt, in einer schrumpfenden Wirtschaft kann man die Staatsfinanzen nicht konsolidieren.
An neuen Aufgaben und Arbeitsmöglichkeiten fehlt es nicht. Woran es fehlt, ist der Mut, mit dem schlechten Alten zu brechen und Neues zu entwickeln. Konkretes und anteilnehmendes Denken wäre hilfreich.
Navigationsfehler einzugestehen, mag schmerzhaft sein für die Staatenlenker und -lenkerinnen, auf dem alten Kurs beharren aber noch schmerzhafter, besonders für die Vielen.
"Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorangeht", meinte Bertolt Brecht. Die Schwierigkeiten sind groß genug geworden. Zum Nach-Denken und zum Handeln werden wir aber nur kommen, wenn wir uns das Gestalten des gesellschaftlichen Zusammenhalts zutrauen, uns somit nicht als "den Märkten" ausgeliefert empfinden. Märkte sind keine Wesen, die Sachzwänge schaffen, sie sind von Menschen geschaffene Instrumente und können verändert werden.
Trauen wir uns zu, die beiden Grundfragen zu stellen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und: Wie gestalten wir den Weg dorthin?

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Titel: GFT 120211 Gedanken für den Tag / Stephan Schulmeister
Länge: 03:50 min

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