Gedanken für den Tag

Von Superintendentin Luise Müller. "Von Narren und Weisen". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

"Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er sagt die Wahrheit", lautet eine Weisheit des englischen Schriftstellers Oscar Wilde einmal gemeint. Masken und Rollen, Narren und Weise, Rio de Janeiro und Venedig, oder einfach einmal aus der Alltagshaut fahren. Nicht nur der Fasching hat viele Gesichter. Die evangelisch-lutherische Superintendentin Luise Müller lüftet so manche Maske.

Eines der zweifelhaftesten Komplimente, das ich je bekommen habe, war der Satz: "Das schätze ich an Ihnen, dass Sie so gar nichts aus sich machen." Ich war damals eine junge berufstätige Mutter, hatte immer zu wenig Zeit und zu wenig Kraft für alles, war aber grundsätzlich genau die, die ich sein wollte. Was sollte das heißen: ich mache nichts aus mir? Für mich klang dieses Kompliment nach Unscheinbarkeit, nach Vernachlässigung, nach Übersehen werden. Wenn dieser Satz stimmte, dann war ich mir selbst sehr fremd.

Wer bin ich - das ist eine Frage, die einen umtreiben kann. Pubertierende, die sich und die Welt nicht mehr verstehen, Liebende für die der Himmel, der gestern noch leer und grau war, voller Geigen hängt, ein Vater, der sein Kind anbrüllt, der, dessen Freundin gerade mit ihm Schluss gemacht hat. Wer bin ich?

Manchmal bin ich mir selbst fremd.

Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Pfarrer und Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus schrieb während seiner zweijährigen Gefangenschaft neben vielem anderen auch das Gedicht: Wer bin ich.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

In den nächsten Gedichtzeilen fragt sich Bonhoeffer, ob er das ist, was andere von ihm sagen, oder das, was er selber weiß. Denn das, was er selber von sich erfährt, ist so ziemlich genau das Gegenteil dessen, wie ihn andere wahrnehmen. Er schließt seine Überlegungen schließlich mit der Erkenntnis:
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Bei allem Vorläufigen, das unsere Existenz ausmacht, allen Bildern, die wir von uns und von anderen in uns tragen, gibt es für den, dem die Gnade des Glaubens geschenkt ist, diese tröstliche Geborgenheit: Du kennst mich, dein bin ich, o Gott.

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Titel: GFT 120225 Gedanken für den Tag / Luise Müller
Länge: 03:49 min

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