Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Die dunklen Krüge der Erinnerung" - Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Als Historikerin und Schriftstellerin hat sich Gertrud Fussenegger intensiv mit der Vergangenheit befasst; im Roman "Das Haus der dunklen Krüge" verarbeitete sie Erinnerungen an ihre böhmische Heimat. Ihr Werk ist vom Katholizismus geprägt - und doch war sie glühende Nationalsozialistin.

Die Erinnerung an Begegnungen mit einer charmanten Persönlichkeit und ihrem oft auch fragwürdigen Werk zwingt zu Reflexionen über das katholische Milieu, die Rolle der Literatur und die Abgründe der Erinnerung.

Slowakische Bäuerinnen, die in den Städten ihre Stickereien und Häkelwaren anboten, gehörten vor 100 Jahren noch zum Kindheitsalltag der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. Sie beschreibt eine bürgerliche Dame, die sich herablässt, die Ware zu begutachten - und die Untertänigkeit und Angst der Bäuerin, die auf das Geld dringend angewiesen ist. Sie notiert: "Dieses Hin und Her zwischen Dame und Slowakin, dieser ungleiche Kampf zwischen Macht und Ohnmacht, Haben und Bedürftigkeit, dieses Schritt-für-Schritt-der-Not-auf-den-Leib-Rücken, der himmelschreienden Not da hinten irgendwo jenseits des reichen böhmischen Landes...". Die feine Dame bestimmt den Preis, und sie drückt ihn gnadenlos. Das Kind versteht noch nichts vom Geldwert, aber es spürt instinktiv das Unrecht. Und kaum ist die Slowakin verschwunden, hört es die Wahrheit: "Eine prachtvolle Arbeit. Ja - und so billig! Da ist mir wieder ein Fang geglückt." Die feine Dame, die die Slowakin gnadenlos ausnutzt, die bei der Öllampe mit tränenden Augen und schmerzendem Rücken ihre prachtvolle Arbeit angefertigt hat, um ihr Kind durchzubringen - diese feine Dame ist Gertrud Fusseneggers Mutter; oder ihre Tante; und ein anderes Mal die geliebte Großmutter. Und im selben Kapitel kann man lesen, wie die Dienstmädchen in stinkenden Kammern neben der Schmutzwäsche und den Flöhen schlafen mussten. Selten wurde die Kehrseite des Bürgertums so schonungslos beschrieben; die eigene Herkunft und Familie trübt den Blick der Schriftstellerin nicht, ganz im Gegenteil.

Wenn ich das lese, denke ich an die Arbeiterinnen und Arbeiter außerhalb Europas, die heute jene Produkte des alltäglichen Gebrauches anfertigen, von denen die Geschäfte in den reichen Ländern überquellen. Aber sie kommen nicht mehr zu mir ins Haus wie die slowakische Bäuerin, sondern ich sehe sie ein Leben lang nicht. Doch auch ich lebe mit ihren Erzeugnissen, die sie oft um einen Hungerlohn und unter großem Gesundheitsrisiko herstellen.

Service

Gertrud Fussenegger, "Das Haus der dunklen Krüge", Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004

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Sendereihe

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Titel: GFT 120509 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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