Gedanken für den Tag

Von Johanna Schwanberg. "Malerischer Dialog mit der Bibel" - Gedanken zum 125. Geburtstag von Marc Chagall. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Seit seiner Kindheit war Marc Chagall fasziniert von der Bibel, von der er einmal sagte: "Sie scheint mir noch immer die bedeutendste Quelle der Dichtung aller Zeiten zu sein. Seither suche ich im Leben wie in der Kunst nach ihrem Widerschein."

Anhand einzelner Gemälde beleuchtet die Kunstkritikerin Johanna Schwanberg Marc Chagalls Leben und Schaffen als einer der bedeutendsten Maler der Moderne. Im Zentrum steht dabei Marc Chagalls Auseinandersetzung mit religiösen und existentiellen Themen. Als in Weißrussland geborener jüdischer Maler, der in der Metropole der Avantgarde in Frankreich lebt, versucht Chagall eine Bildsprache zu finden, die sowohl seiner jüdischen Identität als auch der christlichen Kunsttradition gerecht wird.

Widersprüche

Leicht und fröhlich wirkt dieses Bild auf den ersten Blick. Gemalt hat es Marc Chagall in den 1960er Jahren. Die leuchtende Farbigkeit passt bei näherer Betrachtung so gar nicht zu dem dramatischen Inhalt. Denn auf dem Ölbild ist eine Stelle aus dem 1. Buch Mose dargestellt, die Künstler unterschiedlicher Epochen besonders gerne gemalt haben: "Die Opferung Isaaks". In dieser Szene soll die Gottesfürchtigkeit Abrahams auf die Probe gestellt werden. Daher befiehlt ihm Gott seinen einzigen Sohn zu opfern. Kurz vor der Tat vernimmt Abraham die Stimme Gottes, die ihm aufträgt, seinem Sohn doch nichts zu Leide zu tun. Schließlich habe er bereits bewiesen, dass er für seinen Glauben Alles geben würde. Was ist das für eine furchtbare Geschichte, habe ich mich als Studentin immer gefragt, wenn sie mir während des Studiums in Museen und Büchern begegnete. Spätestens seit ich selbst Kinder habe, sind mir die Darstellungen, in denen ein Vater im Begriff ist, seinen geliebten Sohn zu töten, unerträglich geworden.

Marc Chagalls Gemälde fasziniert mich, weil es anders ist als viele Bilder zu demselben Thema. So richtet der bärtige Vater das Messer nicht gegen die Kehle Isaaks, sondern scheinbar fragend und drohend zugleich zum Himmel. Auch das Einbeziehen der Mutter Sarah in das Bildgeschehen ist ungewöhnlich. Sie sitzt hinter einem Baum und beobachtet verzweifelt die schreckliche Situation. Aufschlussreich ist auch eine Szene im rechten oberen Eck: Sie zeigt die Kreuztragung Jesu und stellt so einen Bezug zwischen dem Alten und dem Neuen Testament her - zwischen dem Leid des Kindes und dem Martyrium Christi.

Chagall, der heute vor 125 Jahren geboren wurde, hat mit diesem Bild eindrucksvoll gezeigt, was ich an Kunst so liebe. Malerei kann auf wunderbare Weise Widersprüchliches - auch zeitlich und räumlich Auseinanderliegendes - vereinen. Sie kann dabei Dinge sagen, ohne sie auszusprechen. Und sie kann eine inhaltlich noch so düstere Geschichte in ein positives Licht rücken. Durch leuchtendes Rot, Blau und Gelb.

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Titel: GFT 120706 Gedanken für den Tag / Johanna Schwanberg
Länge: 03:49 min

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