Gedanken für den Tag

Von Michael Bünker. "Erfahrungen auf der Alm". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Gibt es das noch, ein Land, wo Milch und Honig fließen? In manchen alten Sagen werden die Almen so beschrieben. Aber das Almleben ist keine Idylle. Dennoch: Der Mythos ist zwischen den Interessen von Viehwirtschaft und Tourismus, von Forstbesitzern und Jägern ungebrochen lebendig. Wen der Zauber des einfachen Lebens ohne fließendes Wasser und elektrischen Strom in enger Gemeinschaft mit den Tieren und umgeben von weitgehend unzerstörter Natur einmal erfasst hat, den lässt er nicht mehr so schnell los.

Der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker verbringt seit seiner Kindheit den Sommer auf der Alm. Er erzählt vom lieben Vieh und den steilen Wegen, von den typischen Almleuten und ihren Hütten, von den Hirschen im Wald und den Forellen im Bach und von einem Tagesablauf nach einem ganz anderen Rhythmus.

Die Hochblüte der Almen ist seit gut 100 Jahren vorüber. Dennoch ist die Almwirtschaft ein unersetzlicher Kulturfaktor. Heute erhält sie durch den Tourismus zusätzliche Bedeutung. Die Almen widersetzen sich dem herrschenden Trend der industriellen Herstellung von Fleisch und Lebensmitteln. Mensch und Natur leben weitgehend im Einklang. Dieses Leben ist zwar nicht immer beschaulich, aber es ist immer langsam. Alles braucht länger, viele Wege lassen sich nach wie vor nur zu Fuß zurücklegen. Die Menschen passen sich dem Tempo der Tiere an. Das Vieh zieht langsam über die Weiden, nur wenn eine Mutterkuh ihr Kalb gegen einen womöglich freilaufenden Hund verteidigt, werden selbst die Rinder schnell. Die Behäbigkeit und Langsamkeit der Rinder entschleunigt auch das Leben der Menschen. Auf der Alm brauche ich keine Uhr, auf der Alm habe ich Zeit. Unter den Milchkühen bei unserem Almnachbarn gibt es eine wunderschöne schokoladebraune Pinzgauerin. Wenn ich am Abend auf der steirischen Harmonika so vor mich hin spiele, steht sie immer wieder am Zaun und schaut mich an. Sie hört zu - und vergisst dabei ganz aufs Fressen und Wiederkauen und auch darauf, dass sie längst in den Stall muss, um gemolken zu werden. Es sind nur ein paar Wochen im Jahr, in denen ich diese Entschleunigung auf der Alm leben kann und danach holen auch mich sehr schnell wieder der Termindruck und die Anforderungen meines Berufs als evangelischer Bischof ein. Doch diese paar Wochen sind für mich wichtig, als "Marksteine", von denen Robert Musil schreibt:

"Denn unser Leben ist nichts anderes als Marksteine setzen und von einem zum anderen hüpfen, täglich über tausend Sterbesekunden hinweg. Wir leben nur gewissermaßen in den Ruhepunkten."
(Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Rowohlt Taschenbuch)

Service

Buch, Robert Musil, "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß", Rowohlt Taschenbuch

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120728 Gedanken für den Tag / Michael Bünker
Länge: 03:49 min

weiteren Inhalt einblenden