Gedanken für den Tag

Von Eric Frey. "Ritus und Ratio". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Wenn man den Worten der Tora, der fünf Bücher Mose, folgt, dann ist das älteste Ritual des Judentums die Beschneidung. Mit diesem Schnitt ging einst Abraham seinen Bund mit Gott ein, und seither werden alle männlichen Nachkommen des biblischen Stammvaters am achten Tag nach ihrer Geburt beschnitten - und das seit weit mehr als 100 Generationen. Die meisten Muslime kennen keinen festen vorgeschriebenen Zeitpunkt, aber auch für sie ist die Beschneidung ein zentrales Ritual, das sie zu wahren Erben Abrahams und Mohammeds macht. Für unsere heutige Zeit mag das ein archaisches Ritual von zweifelhaftem medizinischem Nutzen sein. Und wie kann man, so fragen sich viele Anhänger der Aufklärung, den eigenen Kindern durch einen irreversiblen Eingriff in den Körper vorschreiben, was sie später im Leben zu sein haben? Mein Verstand kann diesen Argumenten gut folgen, und würde ein heutiger Moses oder Mohammed nach jahrelangem Studium im Auftrag Gottes eine neue, perfekte Religion stiften, dann würde er wohl auf die Beschneidung verzichten. Aber wir sind nicht plötzlich von einem anderen Stern auf der Erde gelandet, sondern wir sind alle Teil von Kultur und Tradition, die über Jahrhunderte, im Fall des Judentums über Jahrtausende entstanden ist. Dieses alte Erbe, das Wissen, dass wir ein Teil eines größeren Ganzen sind, das ist für die meisten Juden - so auch mich - viel mehr wert als ein bisschen Vorhaut. Und wenn wir unseren Kindern, in diesem Fall den Buben, dieses Stück Identität mitgeben können, das sie dann als Erwachsene bewahren oder auch ignorieren können, dann ist das in meinen Augen die beste Mitgift für ein erfülltes Leben. Und ich finde: Nur wer dieses Verlangen versteht, kann zu dieser Debatte einen sinnvollen Beitrag leisten.

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Titel: GFT 121005 Gedanken für den Tag / Eric Frey
Länge: 03:49 min

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