Da capo: Im Gespräch
"Kunst ist dazu da, Menschen einen anderen, verstörenden, irritierenden Blick zu zeigen." Michael Kerbler im Gespräch mit Ulrich Seidl, Filmregisseur
1. März 2013, 16:00
Wer Ulrich Seidl Webseite besucht, wird sogleich mit jenen Attributen konfrontiert, die dem Regisseur von der öffentlichen und veröffentlichten Meinung angeheftet wurden: "Drehbuchautor, Produzent, Voyeur, Pessimist, Unhold, Humanist, Menschenverachter, Sozialpornograph, Provokateur, Zyniker, ..."
Unzweifelhaft will Ulrich Seidl in und mit seinen Filmen den Menschen eine andere Perspektive eröffnen. Oder um es mit Seidl zu sagen: "Ich finde, Kunst ist dazu da, Menschen einen anderen Blick zu zeigen. Dieser Blick ist oft verstörend und irritierend. Letztendlich ist es etwas Positives, weil man Menschen und sich selbst damit etwas bewusst macht. Insofern sind die Filme nachhaltig und nicht nur eine schnelle Unterhaltung oder Spannung."
Dass sich Ulrich Seidl in einigen seiner Filme mit Religion und Glaube auseinandersetzt, so etwa im zweiten Teil seiner Trilogie "Paradies: Glaube", kommt nicht von ungefähr: Der im November 1952 in Wien geborene und im niederösterreichischen Horn aufgewachsene Ulrich Seidl wuchs als Sohn strengkatholischer Eltern auf und hätte eigentlich Priester werden sollen. "Das war meine Bestimmung damals. Mein Leben in einer katholischen Familie hat mich sehr geprägt. Als Kind war das durchaus vorstellbar, dass man Priester wird. Ich war ja Ministrant und habe im Kreis der Kirche auch eine interessante Zeit verbracht." Doch es kam anders. "In der Pubertät bin ich draufgekommen, wie viel daran verstellt ist und für mich nicht stimmt. Dann habe angefangen, gegen diese Scheinheiligkeit und Verlogenheit zu rebellieren." Mittlerweile ist der Filmemacher aus der Kirche ausgetreten. "Aber ich habe keine Ressentiments. Man muss auch trennen können zwischen Kirche, Glaube und Religion."
Auf dem Filmfestival Berlinale, das von 7.-17.Februar dauert, wird Ulrich Seidls Trilogie "Paradies: Liebe", "Paradies: Glaube" und "Paradies: Hoffnung" gezeigt. Damit ist Seidl ein ernsthafter Bewerber um den Goldenen Bären.
Michael Kerbler hat Ulrich Seidl eingeladen über die Bedeutung von Filmfestivals, seine Trilogie und die Aufgabe der Kunst - insbesondere des Films - für die Gesellschaft zu debattieren.
Service
Reiner Riedler, Helene Hegemann, Elfriede Jelinek und Ulrich Seidl, "Paradies. Liebe Glaube Hoffnung", Verlag Hatje Cantz (ISBN-10: 3775735593 bzw. ISBN-13: 978-3775735599)
Stefan Grissemann, "Sündenfall", Verlagsgesellschaft Sonderzahl (ISBN-10: 3854492790 bzw. ISBN-13: 978-3854492795)