Salzburger Nachtstudio
"Ich war dabei" - Das Phänomen des Zeitzeugen in der historischen Erinnerungskultur.
Gestaltung: Sabrina Adlbrecht
17. April 2013, 21:00
Durch Zeitzeugen findet die Gegenwart einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit. Geschichte auf diese Weise vermittelt zu bekommen, ist für uns ganz selbstverständlich und doch ein relativ junges Phänomen: Es begann nach 1945, in der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Als Begriff in der wissenschaftlichen Literatur taucht der Zeitzeuge erst gegen Ende der 1970er Jahre auf. Etwa zwanzig Jahre später wurde dann die "authentische Stimme" des Zeitzeugen als Form des Erinnerns an den Holocaust zur bevorzugten medialen Art der Darstellung. Heute sind Zeitzeugen aus Film- und Fernsehdokumentationen, aus der pädagogischen, der Museums- und Gedenkstättenarbeit nicht mehr wegzudenken.
Die Rolle des Zeitzeugen hat sich allerdings im Lauf der vergangenen paar Jahrzehnte gewandelt, wie manche Historiker konstatieren: Anfänglich Kritiker der offiziellen Geschichts- und Erinnerungskultur sei er heute deren Träger und Verfechter geworden. Die Geschichtswissenschafter hätten damit ihr einstiges Vorrecht zur Interpretation von geschichtlichen Vorgängen zunehmend eingebüßt. Mittlerweile hat sich die Figur des Zeitzeugen auch längst aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext gelöst. So konnte zum Beispiel die erneuerte Kommunismusforschung nach 1989 von vornherein auf ihn als etabliertes Phänomen in der Geschichtskultur zurückgreifen.
Die Sendung setzt sich mit dem "Aufstieg des Zeitzeugen" auseinander, fragt nach Erklärungen für seine wachsende Bedeutung und seiner - oft auch kritisch zu hinterfragenden - grundsätzlichen Rolle bei der Vermittlung historischer Ereignisse. Nicht zuletzt und gerade in Hinblick auf die NS-Geschichte - soll es auch um die Frage gehen, was passiert, wenn die Zeitzeugen verschwinden und nur ihre Zeugnisse bleiben - wie sieht dann die Zukunft der Erinnerung aus?
Service
Barbara Coudenhove-Kalergi: Zuhause ist überall. Erinnerungen. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2013.
Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Geschichte der Gegenwart (Hg. Von Frank Bösch und Martin Sabrow),
Bd. 4 / Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts (Hg. Von Norbert Frei), Bd. 14, Wallstein Verlag, Göttingen, 2012.
Wulf Kansteiner, Norbert Frei (Hg.): Den Holocaust erzählen: Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. Wallstein Verlag, Göttingen, 2013. Reihe: Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien; Bd. 11.
Dieter Segert: Prager Frühling. Gespräche über eine europäische Erfahrung. Verlag Braumüller, Wien, 2008.
Heidemarie Uhl: Das Bild der Vergangenheit in der Erinnerung von ZeitzeugInnen. Stellenwert und Problematik von Oral "History" in der medialen Geschichtsvermittlung. In: Heidemarie Uhl (Hg.): Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem "Anschluss". Böhlau-Verlag, Wien, Köln, Weimar, 1992. Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 17
Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, 2002.
Interviewpartner/innen:
Martin Sabrow: Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam
Wulf Kansteiner: Zeit- und Medienhistoriker, Binghamton University in New York
Barbara Coudenhove-Kalergi: Journalistin, Autorin
Heidemarie Uhl: Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Harald Welzer: ehem. Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen; Mitbegründer und
Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei
Arnold Suppan: Historiker und Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Erich Lessing: Fotograf
Dieter Segert: Politikwissenschaftler, Universität Wien
Wolfram Tschiche: Theologe, Philosoph; DDR-Bürgerrechtler
Manfred Görtemaker: Historisches Institut Potsdam