Zwischenruf

von Dr. Christoph Weist (Wien)

In unserem Nachbarland Deutschland ist man entsetzt. Mit Recht. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages hat zweifelsfrei ergeben, dass die Ermittlungsbehörden bei den Morden des sog. "Nationalsozialistischen Untergrunds" ausgesprochen "vorurteilsbeladen" vorgegangen sind. Jahrelang hatte man die türkisch- und griechisch stämmigen Opfer, auch eine ermordete Polizistin, zu eigentlichen Tätern gemacht. Ein "Rufmord nach dem Mord", wie es ein österreichischer Journalist bezeichnet hat. Die Folgen für die Familien der Opfer sind noch gar nicht abschätzbar. Auch nicht im Blick auf den Gerichtsprozess, der derzeit zu diesen Verbrechen läuft.

"Vorurteilsbeladen" - Was ist eigentlich ein Vorurteil? Soziologen sagen, es handle sich um ein starres Urteil, das längerfristig Orientierung abgibt oft über Personen und Personengruppen. Und zwar ohne dass die urteilende Person entsprechende Informationen zu den beurteilten Personen hat oder sie berücksichtigt. Das Problem, so sagen sie, ist nun nicht so sehr, dass es sich dabei immer um eine falsche generalisierende Behauptung handelt, die leicht zu widerlegen ist, sondern dass gegen alle Vernunft und gegen alle Informationen an ihr festgehalten wird.

Psychologen ergänzen, hier gehe es oftmals um eine "Projektion", d.h. um eine "innere Entlastung, die durch Verlagern nach außen erreicht werden kann": Ich bringe etwas nicht zustande, fühle mich überhaupt in der Gesellschaft zu kurz gekommen, - aber oh nein, es sind die anderen, die an meinen Problemen schuld sind, die so ganz anders leben und in Wahrheit nicht hierhergehören. Und schon fühle ich mich als etwas Besseres.

Alles in allem gefährliche Gesetzmäßigkeiten, in denen menschliches Denken und Handeln befangen ist. Aber sind sie unverrückbar?

Auch in der Bibel gibt es Vorurteile. "Was kann aus Nazareth Gutes kommen?" (Joh 2,46) fragt im Johannesevangelium, geruhsam unter einem Feigenbaum sitzend, ein gewisser Nathanael den Philippus, einen Jünger des Jesus von Nazareth. Philippus will ihn mit seinem Meister, dem Messias, bekanntmachen. Nazareth war damals ein unbedeutendes Nest. Und das Vorurteil des Nathanael war eines der Tradition: nach damaligem Verständnis kommt der Messias ganz sicher nicht aus einem solchen Ort.

Die Antwort des Philippus fasst alle komplizierten Erwägungen der Soziologen und Psychologen, die sich mit dem Problem des Vorurteils und seiner Überwindung befassen, kurz und genial zusammen: "Komm und sieh!"

Ich denke, das ist das einzige Rezept gegen Vorurteile. Komm und sieh wie sie leben in deiner Stadt, die Frauen, Männer und Kinder mit dem sogenannten "Migrationshintergrund". Besuche ihre Cafés, probiere ihre Speisen! Komm und sieh woher sie kommen! Noch immer gibt es Länder, wo das möglich ist. Vor einer Jordanienreise erklärten mir Freunde: "Aber dort wird man ja erschossen!". Ich kam und sah und werde nie die herzliche Gastfreundschaft der Beduinen im Wadi Ram vergessen. Nirgendwo habe ich übrigens auch nur ein Gewehr gesehen.

Komm und sieh! Das möchte man rufen in die Dienststellen nicht nur von Ermittlungsbehörden, sondern auch in die Büros, in denen über Flüchtlingsschicksale entschieden wird. Ich denke, dann würden sich in Staat und Gesellschaft "längerfristige Orientierungen" der Tradition wandeln - Stichwort: Vorbehalte gegen alles Türkische seit den Türkenkriegen - oder der Emotion - Stichwort: "Ich kann das Kopftuch einfach nicht ausstehen". Aus Vorurteilen würden sachliche Beurteilungen. Die Welt ist nicht voller Islamisten.

Nur eine Hoffnung? Ja, eine Hoffnung. Das Neue Testament jedenfalls hat sie. Als Nathanael schließlich zu Jesus kommt und ihn sieht, sagt er: "Du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel", d.h. der Messias. So zerbricht ein Vorurteil. Es ist ein Modell - nicht nur für Christinnen und Christen.

Sendereihe