Zwischenruf

von Martin Schenk (Wien)

"Wie läuft das Spiel?"

"Wenn der erste Spieler sich sofort alle großen Straßen unter den Nagel reißt und die anderen nur noch abzockt, dann können die das kaum mehr aufholen." Marcel Merkle entwickelt Brettspiele. Mit seinen Kollegen zählt er weltweit zu den innovativsten Spielemachern. Seit dem Klassiker Monopoly haben sie noch dazu gelernt. Der Startvorteil der ersten Spieler gehört zu den größten Herausforderungen für Spiele-Entwickler. Die Dynamik des Spiels führt oft dazu, dass sich ein Vorsprung über die Spieldauer verstärkt und ab einem bestimmten Punkt kaum mehr umkehrbar ist. Es werde als frustrierend und ungerecht erlebt, erklärt Merkle, wenn der Verlauf davon abhängt, wer als erster beginnt. Die Spiele-Gestalter haben darauf mit unterschiedlichen Strategien reagiert. Wenn zum Beispiel in jeder Runde neues Kapital ausgegeben werde, dann sinke die Gefahr massiv, dass einzelne Spieler den Anschluss verlieren. "Zentral ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihr Handeln Einfluss auf den Verlauf des Spiels hat." Der Spiele-Gestalter testet seine Regeln mit mehreren Gruppen, bevor ein Spiel produziert wird. Dabei beobachtet er, welche Wirkung die Regeln haben, und ob sich die Spieler an die Spielanleitung halten. Ein Spiel, das als gerecht empfunden wird und dessen Regeln anerkannt werden, verbindet laut Merkle auf ideale Weise Elemente des Zufalls, der Geschicklichkeit und des "sozialen Ausgleichs". Abgeschlagene Spieler und Spielerinnen, die die Regeln als ungerecht empfinden, können sich Brettspiel-Macher einfach nicht leisten.

Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort spielen wir mit, dort wächst Zukunft.

Doch wie läuft das Spiel zur Zeit?

Jetzt brodelt es in Spanien, in Portugal, in Griechenland. Vor einiger Zeit brannte es auf Englands Straßen. Das kommt nicht aus dem Nichts. Wenn wir uns drei Indikatoren anschauen, die über Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt einiges aussagen: Erstens die Gewaltrate, zweitens die Anzahl der Gefängnisinsassen und drittens das Wohlergehen von Kindern. Und dann diese drei Indikatoren mit der sozialen Ungleichheit verknüpfen, die in unterschiedlichen Ländern besteht, dann bekommen wir als Ergebnis: Wo die soziale Schere auseinander geht, dort herrscht mehr Gewalt, dort sitzen mehr Menschen im Gefängnis und dort ist die Lebensqualität der Kinder viel schlechter. Bleiben wir in den reichen Ländern. In den USA wird alle drei Stunden ein Kind mit einer Waffe getötet, in England werden über eine Million Gewaltverbrechen in einem Jahr registriert. Das ist wesentlich höher als in anderen Staaten mit ähnlicher Wirtschaftskraft. Je höher die soziale Ungleichheit in einem Land, desto mehr an Gewalt ist zu verzeichnen. Dasselbe gilt für die Anzahl der Personen, die in Gefängnissen sitzen. Auch hier weist England eine extrem hohe Rate auf. Je größer die Unterschiede zwischen arm und reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern. Der Zusammenhang war in jenem Land am stärksten, in dem die höchste Anzahl der Kinder vorlag, die unter weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens im Land lebt. Nicht wie reich wir insgesamt sind, ist hier entscheidend, sondern wie stark die Unterschiede zwischen uns sind.

Wie läuft das Spiel?

"Es soll zu einem Ausgleich kommen", gab der Apostel Paulus den Korinthern zur Antwort. Es ist ein Brieftext 55 Jahre nach Christi Geburt über das Prinzip der Gegenseitigkeit, in einer Stadt mit vielen Konflikten und starkem sozialen Gefälle. Die Gemeinde in Korinth entschloss sich, für die ärmere Gemeinde in Jerusalem zu sammeln. "Ihr sollt nicht selbst Mangel leiden, damit andern geholfen wird", stellte Paulus klar. Aber die Gemeinde in Jerusalem darf nicht allein gelassen werden.

Wie läuft das Spiel zur Zeit?

Lippenbekenntnisse für ein soziales Europa reichen nicht aus. Europa wird den Ausgleich schaffen, oder es wird nicht mehr sein. Die aktuelle Spielaufstellung produziert zu viele abgeschlagene Spieler. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Zukunft. Es geht jetzt nicht darum bloß besser mitzuspielen - es geht jetzt wohl darum, die Spielregeln zu ändern.

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