Gedanken für den Tag
von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer: "Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ... ". Gestaltung: Alexandra Mantler
2. August 2013, 06:56
Ich hab' in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit!
Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh' ich, daß ich wohl getan;
Ich habe neu das Herz umkränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.
Gottfried Kellers Gedicht "Ich hab in kalten Wintertagen" ist 1889 erschienen - im Jahr davor hatte Keller die entscheidende Begegnung mit dem Religionskritiker Ludwig Feuerbach. Darauf geht seine definitive Absage an die Vorstellung der Unsterblichkeit als Trugbild zurück. Mir fällt die Doppeldeutigkeit der Verszeile "Im Grabe aber ruht der Wahn" auf: Betont man das Grab, so ist der Wahn definitiv tot; legt man die Betonung jedoch auf das Ende des Satzes, so ruht der Wahn lediglich und könnte auch wiederkehren.
Ich bin als Kind im Glauben an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele aufgewachsen; später hat es mich oft amüsiert, wie heroisch Christen, die diesen Glauben teilen, darum kämpfen müssen, dass er ihnen nicht abhandenkommt. Ich habe mir gedacht: Was ist ein Glaube eigentlich wert, der so leicht verlorengehen kann? Aus Gottfried Kellers Gedicht spricht der Heroismus eines atheistischen Glaubens, dass mit dem Tod ganz sicher alles aus und vorbei sei. In den folgenden Strophen wird das Firmament zum Ersatz für Kirchen und der Anblick einer blühenden Lilie zur Einübung in die Vergänglichkeit. Schöne Verse hat Gottfried Keller dafür gefunden:
Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand;
Ich schau' hinauf zum blauen Dome -
Und such' kein beßres Vaterland.
Nun erst versteh' ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß,
Ich weiß, wie hell die Flamme glühet,
Daß ich gleich dir vergehen muß!
Die Schönheit des Sommers ist vergänglich. Der Mensch hingegen sei unvergänglich, bekam ich in manchen katholischen Predigten zu hören, und diese definitive Sicherheit hat mich irritiert. An Gottfried Kellers Gedicht ist mir die gegenteilige Sicherheit suspekt: Der Mensch vergeht wie die Lilie. Ich freue mich über die Lilien, meine Lieblingsblumen, und entnehme ihnen keine Botschaft. Nur manchmal eine Frage - nach welchem Plan sie blühen, vergehen und im nächsten Jahr wiederum blühen. Und ob das etwas aussagt über den Menschen.
Service
Buch, Sommergedichte, ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Verlag Philipp Reclam jun.
Buch, Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, R. Piper Verlag
Buch, Ernst Stadler, Sommer, aus: Der Aufbruch. Gedichte, Verlag Kurt Wolff
Buch, Gottfried Keller, Ich hab in kalten Wintertagen, aus: Gedichte, Band 1, Hrsg. v. Kai Kauffmann, Deutscher Klassiker Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Antonio Vivaldi
Album: VIVALDI: 6 FLÖTENKONZERTE op.10
* Cantabile - 2.Satz (00:02:50)
Titel: Konzert für Blockflöte, Streicher und B.c. in D-Dur op.10 Nr.3 RV 428 "Il gardellino"
Populartitel: Il Gardellino
Populartitel: Der Stieglitz
Flötenkonzert
Solist/Solistin: Michala Petri /Sopranino - Blockflöte
Ausführende: Academy of St.Martin in the Fields
Leitung: Iona Brown
Länge: 02:00 min
Label: Philips 4128742