Gedanken für den Tag

Von Vladimir Vertlib, Schriftsteller. "Der Blick zurück, um nach vorne schauen zu können". Gestaltung: Alexandra Mantler

Erinnerung gibt in einem wesentlichen Maße den kulturellen Code vor, an dem wir uns orientieren. Manchmal wäre es ganz gut, diesen zu brechen...

Letztes Jahr lernte ich Yasemin, eine muslimische Religionslehrerin mit türkischem Migrationshintergrund kennen, die aber schon als Kleinkind mit ihren Eltern nach Salzburg gekommen ist. Eigentlich fühle sie sich nur zu 30 Prozent als Türkin und zu 70 Prozent als Österreicherin, besser gesagt als Salzburgerin, erklärte sie mir. Deshalb lasse sie sich gerade eine Salzburger Tracht mit einem dazu passenden Kopftuch schneidern, demonstrativ, als Ausdruck ihrer Salzburger Identität.

Fast alle, denen ich diese Geschichte erzähle, reagieren skeptisch. Ob die Einheimischen so etwas akzeptieren würden?, fragen sie. Eine Türkin mit Tracht und Kopftuch? Eine Afghanin im Dirndl? Ein Afrikaner mit Lederhose? Ob das die Eingeborenen dieses Landes nicht empörend oder lächerlich fänden?

Andere, besonders Großstädter, meinen hingegen, das Tragen der Tracht zeuge generell von Volkstümelei, von Blut-und-Boden-Ideologie. Eine Migrantin in Tracht gäbe demnach ein groteskes Bild ab und setze das falsche Signal. Dem entgegne ich meist: Sollen nachträglich Nazis oder Ultrakonservative immer noch darüber bestimmen dürfen, wie wir das zu betrachten haben, was sie einst vereinnahmt hatten?

Mir persönlich gefällt das Bild von Yasemin, die in Tracht mit Kopftuch gekleidet mit ihren migrationshintergründigen und weniger hintergründigen Freundinnen und Freunden, Mineralwasser trinkend und Putenschinken essend, am Stammtisch im Salzburger Bräustübl sitzt und im Salzburger Dialekt plaudert. Das wäre ein kleines, wenn auch provokantes Zeichen, das die Richtung weist, in die sich unser Land - gerade wegen seiner Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses - bewegen sollte...

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Cesar Cui/1835 - 1918
Album: Russische Klaviermusik
Titel: Prelude op.64 Nr.10 in gis-moll - für Klavier
Solist/Solistin: Margaret Fingerhut /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8439

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