Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich will meinen Kampf beten" - Zum 25. Todestag von Thomas Bernhard. Gestaltung: Alexandra Mantler

Die neun Psalmen in Thomas Bernhards erstem Gedichtband "Auf der Erde und in der Hölle" sind weder eine bruchlose Fortsetzung der biblischen Psalmen noch ihre Parodie. Stimmung und Sprechhaltung sind in jedem Gedicht spezifisch und anders; und auch die Haltung zur traditionellen christlichen Religiosität ist nicht immer gleich, eher werden verschiedene Perspektiven durchgespielt. Der siebente Psalm des neunteiligen Zyklus redet von Armut und Vollendung:

Könnte ich sagen, was gesagt werden muß,
wie mein Körper zur größten Falle meines Lebens wird,
meine Unschuld zur größten Schuld!
Könnte ich sagen, wer ich bin -
hinter den verlöteten Türen,
hinter meinem stolzen Gedächtnis,
könnte ich sagen, wie der Kampf gegen die Gesetze
(gegen die niedrigen Gesetze)
in mir vor sich geht,
wie das Feuer meines Fleisches meine Seele verbrennt,
könnte ich sagen, was ich zu sagen bestimmt bin,
die Hölle meines Blutes,
die Finsternis meiner Augen,
die Unfruchtbarkeit meiner Lieder,
zu sagen die Armut!
Die große Armut, die mich erniedrigt.
Die große Armut, die mich vollendet.
Die Armut, die mich zerspaltet
für die Vollendung!

Im Ich dieses Gedichtes spielen sich dramatische Kämpfe ab. Von heute aus liest es sich, als hätte Thomas Bernhard hier schon den Kampf gegen seinen kranken Körper vorhergesehen. Kommende Woche jährt sich sein Todestag zum 25. Mal. In den "Psalmen" hat er einen vielschichtigen Blick auf die Vollendung eines Lebens geworfen.

Service

Buch, Volker Bohn (Hg.), "Thomas Bernhard. Gesammelte Gedichte", Verlag Suhrkamp

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Zbigniew Preisner/1955
Gesamttitel: 10 leichte Stücke für Klavier
Titel: Meditation < Nr.2 >
Solist/Solistin: Leszek Mozdzer /Klavier
Länge: 02:20 min
Label: EMI Classics 5569712

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